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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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von Osten heranfegten. Das Tote Meer ist nur fünfzehn Meilen entfernt.
    »Du hast recht, Tayeb: Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden.«
    Doch wie? Der Gang vor uns ist verschüttet, der Weg zurück ist uns verwehrt.
    Mein Herz rast, und das Atmen fällt mir plötzlich schwer. Das in sich zusammengefallene Gewölbe und die feuchte, abgestandene Luft versetzen mich in Panik und geben mir das Gefühl …
    Nein, nur nicht daran denken!
    … das entsetzliche Gefühl, lebendig begraben zu sein.

· Yared ·
Kapitel 6
    Auf dem Weg zum Tempelberg
    16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
    Karfreitag, 26. März 1445
    Zwei Uhr morgens

    »Du und Uthman, habt ihr gestritten?«, fragt mich Arslan mit einem besorgten Seitenblick, als wir die Zitadelle verlassen.
    Nach meinem Gespräch mit Uthman habe ich den Befehlshaber meiner Leibwache gebeten, mich zum Tempelberg zu begleiten – allein. In dieser Nacht erwarte ich kein weiteres Attentat mehr. Tughan wird im Morgengrauen nach Jericho eskortiert werden, wo er bleiben wird, bis ich nach Al-Kahira zurückkehre.
    »Uthman wirkte enttäuscht, als du ihm sagtest, du wolltest nicht Vizekönig von Dimashq werden«, fügt Arslan an, als ich nicht sofort antworte. »Dann ist er dir in dein Arbeitszimmer gefolgt, um unter vier Augen mit dir zu reden. Aber durch die geschlossene Tür konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, worüber ihr gesprochen habt.«
    »Arslan, mein Junge, das ist der Sinn von geschlossenen Türen«, erwidere ich trocken.
    Nicht zu fassen, dieser verzogene Bengel hat doch tatsächlich gelauscht!
    »Und nun verlässt du mitten in der Nacht die Zitadelle, um zum Haram ash-Sharif hinüberzugehen«, stellt er völlig unbeeindruckt von meinem Rüffel fest, während wir das Gassenlabyrinth des armenischen Viertels rechter Hand liegen lassen. Die Fackeln an den Häusern rund um die syrisch-orthodoxe Kirche, die dem Evangelisten Markus geweiht ist, sind längst gelöscht.
    Hinter dem Ölberg tobt noch immer der Gewittersturm, der sich mit irrlichternden Blitzen und bedrohlichem Donnergrollen rasch nähert. »Ich will beten«, sage ich nur, als wir nach rechts in die stille Davidstraße einbiegen, die zur Klagemauer führt.
    »Im Felsendom?«, fragt Arslan ungläubig. »Wo der Prophet Mohammed – die Güte Allahs und sein Friede seien über ihm! – in den Himmel entrückt wurde?«
    »Im Felsendom, ja. Wo Gott von Abraham forderte, ihm seinen Sohn auf dem Blutopferaltar zu opfern.«
    »Aber er hat seinen Sohn doch nicht geopfert.«
    »Nein, denn Abraham hatte niemals die Absicht, sich dem Allerhöchsten zu unterwerfen, als der auf dem Felsen Morija von ihm verlangte, sich zu entscheiden. Zwischen seinem Sohn – seiner Liebe, seiner Hoffnung, seinem Glück – und seiner Treue zu seinem Gott.«

    »Yared, ich flehe dich an: Bekenne dich zum Propheten Mohammed! Konvertiere zum Islam!«
    Traurig starrte ich Uthman an, als er vor einer Stunde in meinem Arbeitszimmer ein gefaltetes Dokument aus der Tasche seiner Djellabiya zog.
    »Vater will dich zum Dawadar ernennen, zum mächtigsten Mann des Reiches.«
    Ich barg das Gesicht in den Händen.
    Der Dawadar, der ›Bewahrer des herrscherlichen Tintenfasses‹, der Kanzler des Mameluckenreiches, der engste Berater und Freund des Sultans, der mit Kaisern und Königen, Päpsten und Kalifen korrespondiert … Uthman hat recht: Er ist der mächtigste Mann des Reiches. Und der gefährdetste. Denn wie leicht könnte ein Dawadar seinen Sultan stürzen, um selbst den Thron zu besteigen …
    Uthman setzte sich neben mich auf den Diwan. Auf dem Schreibtisch vor mir breitete er die Ernennungsurkunde aus.
    »Unterwirf dich dem Propheten, Yared! Begleite mich morgen Mittag zum Freitagsgebet in die Al-Aqsa, und sprich die Schahada: ›Ashadu an la ilaha illa-llah, wa Muhammadan rasulu-llah. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist der Gesandte Gottes‹. Bekenne dich zum Islam! Nimm das hohe Amt an, und herrsche an der Seite meines Vaters!«
    Blicklos starrte ich die türkischen Schriftzüge an.
    »Ich bin kein Mamelucke«, gab ich zu bedenken. Ein Argument, dessen einziger Sinn darin bestand, ein entschiedenes ›Ja, ich will‹ oder ›Nein, ich kann nicht‹ hinauszuzögern. Denn mein Herz und mein Verstand sagen: ›Ja, ich will. Aber ich kann nicht.‹
    »Das stimmt, Yared, du bist kein Mamelucke. Du gehörst niemandem. Aber in Timbuktu warst du jahrelang ein Sklave der Tuareg. Geschlagen und gedemütigt. Aber nicht

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