Der Gottesschrein
die Mauern der Gärten, dazu Dattelpalmen, die so hoch sind wie die Minarette im muslimischen Viertel.
An der Synagoge, die Rabbi Moses ben Nahman gegründet hat, bleibe ich verwundert stehen, weil ich an der Wand ein Schild entdecke, das die Sturmböen mit sich zu reißen drohen. Es ist in Kastilisch beschriftet. Hat ein Pessachpilger aus Sevilla oder Córdoba es angefertigt?
»Wir sollten weitergehen, Yared!«, mahnt Arslan ernst. »Bald wird sich der Gewitterguss über dem Tempelberg entladen. Im Felsendom …«
»Einen Augenblick noch!«
Arslan leuchtet mir mit der Fackel, damit ich den Text entziffern kann. Es ist ein herzbewegendes Zitat aus dem Brief, den Moses ben Nahman an seine Familie in der Heimat schickte, nachdem er nach Jeruschalajim gekommen war:
›O Jeruschalajim, Tempel Gottes und Tor zum Himmel. Ich habe deine Ruinen gesehen. Einst warst du die Krone des Ruhms, doch nun bist du zerstört. Je heiliger der Ort, desto verwüsteter. Von Jeruschalajim ist nichts geblieben.‹
»Amen«, flüstere ich schwermütig. Ein gewaltiges Donnergrollen, so ohrenbetäubend laut, als stürze der Himmel ein, reißt mir das Wort von den Lippen.
Dann wende ich mich ab.
· Alessandra ·
Kapitel 7
Im Labyrinth des Tempelbergs
16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
Karfreitag, 26. März 1445
Zwei Uhr dreißig morgens
Erschöpft und zitternd vor Kälte lehne ich an der Wand der Zisterne, zerre das tropfnasse Gewand um mich und schließe die Augen.
Wie lange hat es gedauert, den verschütteten Gang frei zu räumen? Wie lange sind wir schon lebendig begraben? Zwei Stunden? Drei? Vier?
Längst habe ich das Gefühl für die Zeit verloren. Oder für die Entfernung und die Richtung, in der wir unterwegs sind. Wie weit ist es noch bis zum Felsendom? Wie viel Zeit bleibt uns noch, unser Leben zu retten?
»Alessandra!«
Tayeb ist zurückgekommen. Mit einer brennenden Fackel steht er vor mir im schwarzen Wasser der Zisterne, das ihm bis zur Hüfte reicht. Sein indigoblaues Gewand schimmert vor Nässe. Es sieht aus, als wäre es mit Tropfen aus Silber bestickt. Das schwarze Tuch seines Turbans hat er sich um die Schultern gelegt. Er reicht mir die Fackel, setzt sich neben mich auf die kleine Plattform und zieht die Beine an. Wie ich friert er erbärmlich in seiner nassen Kleidung.
»Wie sieht es aus?«, frage ich.
Mit ausgestrecktem Arm weist Tayeb auf das andere Ende der Zisterne. »Dort drüben gibt es eine kleine Kammer, in die zwei Gänge einmünden. Der eine, der nach Osten führt, ist eingestürzt. Dort kommen wir vermutlich nicht weiter. Aber wir könnten in der Nische Schutz suchen, wenn sich das Gewitter über dem Haram ash-Sharif entlädt und die Wassermassen durch das Labyrinth rauschen. Die Kammer liegt mehrere Handbreit über dem Wasserspiegel.«
»Gut zu wissen.«
»Es gibt noch einen dritten Gang.« Tayeb zeigt zur westlichen Wand der Zisterne. »Unter der Wasseroberfläche führt ein Kanal nach Westen. Er ist sehr schmal.« Mit seinen Händen deutet er die Breite meiner Schultern an.
»Na dann.« Mit der Fackel in der Hand springe ich ins Wasser und wate hinüber zur Wand. Der Kanal gehört zu einem Wasserleitungssystem, wie ich es aus Rom kenne. Nur die obere Wölbung ragt eine Handbreit aus dem Wasser – genug Luft zum Atmen.
»Westlich des Tempelbergs gibt es ein römisches Aquädukt, das in der Antike das Wasser zu den Zisternen unterhalb des Tempels geleitet hat.« Ich richte mich wieder auf. »Wenn die römische Wasserleitung in dieser Zisterne endet, dann liegt am anderen Ende das Aquädukt nahe der Klagemauer.«
»Scheint so.«
»Und was liegt zwischen dem Ende des Aquädukts an der Westmauer und dieser Zisterne? Erinnere dich an den Plan, den ich letzte Nacht gezeichnet habe!«
»Der Brunnen des Kelches vor der Al-Aqsa.«
»Richtig. Ich erkunde diesen Gang, während du hier auf mich wartest.«
Tayeb verknotet das Seil um mein rechtes Knie. »Solltest du es nicht schaffen, eine Kammer zu erreichen, in der du atmen kannst, dann gib mir ein Signal mit dem Seil. Ich ziehe dich dann so schnell wie möglich zurück.«
»Ich dachte schon, der Sprung in die nachtschwarze Tiefe wäre der aufregende Höhepunkt unserer Expedition gewesen«, murmele ich mit Blick auf den engen Durchlass. »Ich habe mich getäuscht. Eine finstere Röhre unter Wasser, die so eng ist, dass ich mich nicht umdrehen kann, und deren Länge ich nicht abschätzen kann. Das ist vorerst der unvergessliche Höhepunkt
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