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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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versorge seine Wunden.«
    Tayebs Seitenwunde ist gewiss sehr schmerzhaft, aber sie ist nicht tief. Die Verletzung an der Schulter ist viel gefährlicher. Sie kann ihn seinen linken Arm kosten.
    »Du kannst von Glück reden, weil das Schwert deine Halsschlagader verfehlt hat. Sonst wärst du längst verblutet.«
    Ich nehme den Tallit von meinen Schultern, entfalte ihn und reiße einen handbreiten Streifen der Länge nach ab. Ich verknote ihn und hänge ihn Tayeb über die Schulter. Sofort tränkt sich die weiße Seide mit dem Blut aus der Wunde.
    »Steck deinen Arm in die Schlinge, Tayeb, und winkele ihn an! Ja, genau so. Und nun halte ihn um Gottes willen ruhig.« Dann lege ich Tayeb den abgerissenen Tuchstreifen um die Schultern, ziehe ihn stramm, um seinen Arm in der Schlinge festzuzurren, und verknote auch ihn. »Leg deinen rechten Arm um mich, Tayeb. Ich werde dich hier herausbringen.«

    Wenig später haben wir den Felsendom erreicht. Ich lasse Tayeb auf die Treppe sinken, die zum Brunnen der Seelen hinabführt, hocke mich neben ihn auf die Marmorstufen und untersuche im Schein der Öllampen seine Verletzungen.
    »Und?«, keucht er außer Atem.
    »Die Wunde an deiner Seite ist nicht tief, aber sie muss genäht werden. Und du brauchst Opium gegen die Schmerzen.«
    »Und meine Schulter?«
    Ich schüttele stumm den Kopf.
    Er sieht mir in die Augen. »Werde ich den Arm verlieren?«
    »Das weiß allein Allah«, entgegne ich. »Aber ich werde alles tun, damit das nicht geschieht. Es ist jedoch möglich, dass du nie wieder ein Schwert führen kannst.«
    Er senkt den Blick und zieht sich seinen Tagelmust, den Schleier der Tuareg, über Mund und Nase, um seine Gefühle zu verbergen. »Ich bin kein Krieger. Sondern ein Gelehrter.«
    »Tayeb vom Volk der Kel Aïr. Ein Korangelehrter aus Agadez, der an der berühmten Sankoré-Universität in Timbuktu studiert hat. Theologie und Rechtswissenschaften, wenn ich mich recht entsinne.«
    Verblüfft starrt er mich an. »Und Geschichte.«
    »Und du bist Alessandra d’Ascoli aus Florenz«, wende ich mich an sie.
    Alessandra nickt – beunruhigt, wie mir scheint. Ahnt sie, wer ich bin? War sie deshalb vorhin so verstört?
    »Ich habe eure Namen schon einmal gelesen. Sie standen auf einem Todesurteil, das vor sechs Jahren auf meinem Schreibtisch lag. Und das ich auf Bitten von Papst Eugenius zerrissen habe.«
    »Du bist Yared al-Gharnati.«
    »Ja.«
    Alessandra blickt mir fest in die Augen. »Dann liegt unser Leben heute Nacht wieder in deiner Hand.«
    Ich nicke langsam. »Ich weiß, dass ihr damals nach Ägypten gekommen seid, um antike Papyri aus der verschollenen Bibliothek von Alexandria zu suchen. Was habt ihr in jener versunkenen Synagoge entdeckt? Der Patriarch von Al-Iskanderiya hat getobt, als er erfuhr, dass ich das Todesurteil aufgehoben habe. Was habt ihr gefunden?«
    »Ein vergessenes Evangelium aus dem ersten Jahrhundert. In einem Tonkrug der Genisa.«
    »Ein fünftes Evangelium?«, frage ich überrascht. »Ein neues Evangelium, das ihr während des Unionskonzils nach Florenz gebracht habt, als der römische Papst und der byzantinische Kaiser um die Kirchenunion rangen? Um Gottes willen!«
    »Das waren wohl auch die entsetzten Worte Seiner Seligkeit, des Patriarchen Philotheos, bevor er einen seiner Assassini nach Florenz schickte, um mich zu ermorden und das Evangelium nach Ägypten zurückzubringen.«
    Ich blicke ihr in die Augen. »Und warum seid ihr nun nach Jeruschalajim gekommen? Wieso riskiert ihr im Labyrinth unter dem Tempelberg euer Leben? Die Entweihung des Haram ash-Sharif wird mit dem Tod bestraft.«
    »Tayeb und ich suchen die verschollene Bibliothek des jüdischen Tempels. Ich forsche nach apokryphen Handschriften, die vor zweitausend Jahren nicht in den Kanon des Alten Testaments aufgenommen wurden.«
    Ich runzele die Stirn. »Apokryphe Bücher? Wie das äthiopische Buch Henoch? Oder das Testament Salomos?«
    »Du kennst dich gut aus mit den verborgenen Schriften.« Sie lächelt. Langsam gewinnt sie ihre Selbstsicherheit zurück.
    »Warum suchst du nach solchen Handschriften?«
    »Der Papst plant die Errichtung einer Bibliothek im Vatikan.«
    »Mit hebräischen Büchern? Einer seiner Inquisitoren, Giovanni da Capestrano, fordert, die Juden auf Schiffe zu verladen und ins Meer zu werfen, um sie zu ertränken wie Ratten«, erinnere ich sie und bemühe mich, nicht allzu verbittert zu klingen. »Du interessierst dich für das Judentum, nicht wahr?«
    »Das

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