Der Gottesschrein
zurück, springe nackt aus dem Bett und husche hinüber zum Fenster, um einen Blick auf die erwachende Stadt zu werfen.
In der ersten Morgendämmerung sind viele Muslime unterwegs zum Tempelberg und strömen die Stufen an der Westmauer hinauf zum Brunnen vor der Al-Aqsa. An der Klagemauer, die jetzt von Fackeln hell erleuchtet ist, sehe ich etliche Juden mit schwarz-weiß gestreiftem Tallit ihr Morgengebet halten. In einer Gasse im armenischen Viertel unterhalb des Turms eilt ein armenischer Mönch mit spitzer schwarzer Kapuze zur Kathedrale, die Jakobus geweiht ist, dem Bruder Jesu.
Muslimische Händler, die sich in den Gässchen mit arabesk verschnörkelten Segenswünschen begrüßen und einander die Annehmlichkeiten und Genüsse des Paradieses wünschen, werden nach dem Morgengebet in der Moschee ihre Läden für die christlichen Pilger aus Byzanz, Venedig und Rom öffnen. Viele der muslimischen Pilger, die nicht letzte Woche die Hadj nach Mekka gemacht haben, sondern die Taqdis nach Al-Quds, der drittheiligsten Stadt des Islam, sind noch immer hier.
Die zerlumpten Bettler werden sich heute um die besten Plätze in der Via Dolorosa prügeln. Besonders beliebt scheint die fünfte Station zu sein, wo Simon von Kyrenai Jesus das Kreuz abnahm. Denn dort führt die Via Dolorosa einen engen, mit Bögen überwölbten Treppenweg empor zur Grabeskirche. An dieser schmalsten Stelle sind die Pilger, die mit einem Holzkreuz auf ihrem Rücken die steile Treppe hinaufstolpern, den Bettlern hoffnungslos ausgeliefert. Zum Glück beherrschen die christlichen Wallfahrer meist das Arabische nicht gut genug, um die boshaften Christenwitze zu verstehen. Die Kinder, die durch die Gasse flitzen, spotten mit Vorliebe über jene frommen Pilger, die ein antikes Folterinstrument durch die Stadt schleppen, das zum Symbol ihres Glaubens geworden ist, und die den Propheten Issa ibn Maryam allen Ernstes für den Sohn Gottes halten. Dabei weiß doch jedes Kind im muslimischen Viertel rund um die Via Dolorosa, dass Allah keinen Sohn hat. La ilaha illa-llah. Es gibt keinen Gott außer Gott.
Aber die zynischsten Witze über den Messias am Kreuz werden vermutlich im Judenviertel erzählt, wo viele Aschkenasim leben, die König Philippe, der nicht nur die Templer auf seinem allerchristlichsten Gewissen hat, aus Frankreich vertrieben hat.
»Hayya ala as-salat, hayya ala al-falaaaaaah …«
Sobald der dissonante Gesang von den Minaretten der Stadt verstummt ist und die Muslime in die Moscheen geeilt sind, um auf Knien ihren Glauben an Allah und seinen Propheten zu bekennen, ist es still über Jerusalem. Nur das aufgeregte Zwitschern der Schwalben, die an der befestigten Mauer des Turms ihre Nester gebaut haben, ist noch zu hören.
Die Glocken der Grabeskirche schweigen, denn heute ist Karfreitag. Jüdisch-muslimisch-christlicher Ausnahmezustand in einem von Fanatikern aller Konfessionen heiliggesprochenen Glaubenskrieg.
Seufzend kehre ich zu Yareds Bett zurück, lasse mich in die Kissen sinken, vergrabe das Gesicht im seidenen Laken und atme tief Yareds betörend männlichen Duft ein. Es riecht noch nach ihm, nach seinen dunklen, seidigen Haaren, die in weichen Locken sein sonnengebräuntes Gesicht umrahmen, und nach seiner nackten Haut, die er mit einem orientalischen Duft parfümiert. Niketas hat immer ein wenig nach Weihrauch gerochen, obwohl er, als wir in Florenz zusammenlebten, kein Mönch und Priester mehr war. Yared hingegen riecht nach … ja, nach was? Das erste Wort, das mir in den Sinn kommt, ist: Verführung.
Obwohl ich Yareds Berührungen sehr genossen habe, sehne ich mich nach Niketas. Nach seinem Lächeln. Nach der wohligen Geborgenheit in seinen Armen. Nach seiner zärtlichen Liebe und seiner ungestümen Leidenschaft, wenn wir glücklich lachend im Bett herumtobten.
In manchen Nächten liege ich stundenlang wach und denke an ihn. Wie unsere Körper eins geworden sind. Seit er fort ist, war ich mit keinem Mann mehr zusammen. Nicht, dass es an Gelegenheiten gefehlt hätte – einen Mann zu verführen ist für eine attraktive Frau, auch wenn sie schon dreißig ist, keine Herausforderung. Aber ich wollte es nicht. Nicht mit Cesare Orsini, der mich nach all den Jahren immer noch umwirbt, obwohl er inzwischen verheiratet ist, und nicht mit Cosimo de’ Medici.
Wie viel Glück hat Niketas mir geschenkt, als er im wahrsten Sinn des Wortes in mein Leben gestürzt ist, und wie wenig ist mir davon geblieben! Als er mich für immer
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