Der Gottesschrein
verfolgen.
»Du und dein Freund, ihr habt mir das Leben gerettet«, bedankt sie sich mit heiserer Stimme und streicht sich mit zitternden Fingern das lange Haar aus dem Gesicht, das es wie ein Schleier verborgen hatte.
Ihr von der Sonne gebräuntes Gesicht, die geschwungenen Augenbrauen, die funkelnden blauen Augen, die Nase und die sinnlichen Lippen sind ohne jeden Zweifel römisch. Über dem rechten Auge ist die Stirn aufgerissen. Eine kleine Wunde. Das Blut ist verschmiert.
Sie ist schlank und so groß wie ich, und ihre Bewegungen sind geschmeidig, obwohl sie im Augenblick am ganzen Körper zittert, weil sie in ihrer nassen Kleidung friert. Sie ist nicht atemberaubend schön und begehrenswert wie Jadiya. Und doch schlägt mich ihre verhaltene Sinnlichkeit in den Bann, die aus ihr hervorzuströmen scheint wie der verführerische Duft aus einer Blüte.
»Bism’Allahi ar-rahmani ar-rahím. Im Namen Allahs, des gnädigen und barmherzigen Gottes, hilf mir, meinen Freund zu retten.« Sie spricht das Arabische mit dem mir vertrauten harten Akzent, dem Tamashek der Tuareg des Aïr oder des Ténéré. »Er ist im Kampf mit dem Christusritter schwer verwundet worden. Er wird verbluten, wenn wir ihn nicht …«
»Wo ist er?«
»Im Labyrinth, nicht weit von hier.«
»Einen Augenblick!« Ich haste zum Felsen Morija, wo ich eben gebetet habe, reiße meinen Tallit an mich, den ich zu Boden fallen ließ, als ich den Dolch zog, um mich gegen den vermeintlichen Angriff zu wehren. Schwungvoll lege ich ihn mir um die Schultern. Dann nehme ich zwei Öllampen aus ihren Halterungen und gehe zu ihr zurück.
Sie starrt mich an, als ich ihr eines der flackernden Lichter in die Hand drücke. Sie wirkt verwirrt und sogar ein wenig beunruhigt. Wieso?
»Y’allah – komm!«, murmelt sie schließlich und wendet sich um. Sie humpelt leicht, als wäre sie gestürzt und habe sich dabei den Fuß verletzt.
»Hast du Schmerzen?«, frage ich sie.
»Nicht der Rede wert. Bitte lass uns gehen!«
Hinter ihr zwänge ich mich durch das Loch und folge ihr eine Treppe hinunter in einen Gang, durch den das Regenwasser strömt. So schnell wir können, waten wir mit der Strömung den Korridor entlang, der aus dem Morijafelsen gehauen wurde. Dann hasten wir eine Treppe hinunter in eine hohe Säulenhalle, deren Wände …
Allmächtiger Gott meiner Väter!
… deren Wände verblasste Malereien mit Palmetten- und Blütenornamenten und goldenen Cherubim zeigen!
Ist dies eine Schatzkammer des salomonischen Tempels? Und was schimmert dort drüben? Verwirrt stolpere ich an der Wand entlang und erleuchte das einstmals goldglänzende Bild mit meiner Öllampe. Nur schemenhaft erkenne ich zwei Cherubim, die mit ausgebreiteten Schwingen eine goldene Lade mit langen Tragstangen bewachen, die zwischen ihnen steht.
Mir stockt der Atem.
Die Bundeslade mit den steinernen Tafeln, die Gott Moses …
»Y’allah! Komm weiter!«, drängt sie, packt mich am Ärmel meiner Djellabiya und zerrt mich hinter sich her.
Durch das knietiefe Wasser folge ich ihr in einen Gang, der bald nach rechts abbiegt. Ich bleibe abrupt stehen, als ich einen Schatten bemerke, der taumelnd vor uns zurückweicht, sich dann jedoch erschöpft gegen die Wand lehnt und die Hand auf eine Wunde an seiner Seite presst.
»Tayeb!«, ruft sie und hastet auf ihn zu. Ihre Umarmung ist so ungestüm, dass sie ihn beinahe umwirft.
Er schließt sie in seine Arme und küsst sie. »… bin froh, dich zu sehen, Alessandra!«, keucht er so leise, dass ich ihn im Rauschen des Wassers kaum verstehen kann.
Tayeb ist ein schlanker, hochgewachsener Mann um die vierzig. Sein Gewand und die schier endlose Stoffbahn seines schwarzen Turbans, die er sich um die Schultern gewunden hat, und seine Aussprache verraten mir, dass er dem Volk des Schleiers entstammt.
Er ist ein Targi, ein gefürchteter Krieger der Tuareg, die mich in Timbuktu fünf Jahre lang als Sklave hielten. Die mich demütigten und misshandelten. Die mir meine Freiheit nahmen, meine Würde, meine Hoffnung.
Doch als ich Alessandras flehenden Blick bemerke, besinne ich mich. Er ist schwer verwundet. Und ich bin ein Hakim – ich muss ihm helfen.
Ich wate zu ihm hinüber. »Wo bist du verletzt?«
»An der rechten Seite. Und an der Schulter.« Er hält sich an Alessandra fest und deutet mit einer flüchtigen Geste auf den blutdurchtränkten Riss in seiner nassen Djellabiya.
Ich drücke Alessandra meine Öllampe in die Hand. »Leuchte mir! Ich
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