Der Gottesschrein
Kloster behalten will, dann bleib in Gottes Namen bei ihm.«
Arslan nickt bedächtig. Erst vor wenigen Tagen, als unsere Karawane Betlehem erreichte, hat er mir anvertraut, er sehne sich zurück nach den orthodoxen Messen seiner Kindheit, nach goldschimmernden Ikonen, Gesang und Weihrauchduft – all das fehlt ihm in der Ibn-Tulun-Moschee. Neun Jahre lang war er ein Christ, neunzehn Jahre ein Muslim. Und Arslans Augen leuchten noch immer, wenn an Weihnachten die Kerzen brennen und er den Duft von Weihrauch riecht …
»Ist die Lage so angespannt?«, fragt er.
»Sie ist gefährlicher denn je. Seit Jaqmaq die Christen verfolgt, droht der äthiopische Kaiser, den Nil umzuleiten.«
Arslan zieht scharf die Luft ein. » Unseren Nil?«
» Seinen Nil«, korrigiere ich in ruhigem Tonfall, »denn er entspringt in seinem Reich. Selbstbewusst verkündet Zara Yakob, die jahrtausendealte ägyptische Zivilisation sei auf äthiopischem Boden entstanden – auf dem Nilschlamm, der jedes Jahr während der Nilflut die ägyptischen Felder fruchtbar macht und der von den Sommerregen aus dem äthiopischen Hochland nilabwärts gespült wurde. Sein Nil also, und sein Nilschlamm. Wenn er den Nil ins Rote Meer umleitet, kann er Ägypten in eine Wüste verwandeln.«
»Glaubst du, er wird es tun?«
Ich wiege den Kopf. »Gäbe es keine Nilflut, käme es zu einer Hungersnot in Ägypten. Zara Yakob hat den Plan bislang verworfen, um sich gegenüber den Muslimen barmherzig zu zeigen. Stattdessen fordert er, dass Jaqmaq die Christenverfolgung einstellt und die Kirchen und Klöster, die entweiht, geplündert und niedergebrannt worden sind, wieder für Gottesdienste öffnet. So wie es das Gesetz der Dhimma vorsieht. Andernfalls will der Kaiser dieselbe Härte gegenüber den Muslimen anwenden, die in seinem Reich in Frieden leben und Glaubensfreiheit genießen – noch .«
»Und?«
»Vor Monaten habe ich einen Gesandten mit Geschenken nach Äthiopien geschickt, der die Forderungen des Kaisers im Namen von Sultan Jaqmaq ablehnte. Der Kaiser war zornig über Jaqmaqs Unnachgiebigkeit und ließ meinen Gesandten gefangen nehmen.«
»Und dann?«
»Daraufhin griff Sultan Bedlay, dessen Sultanat Adal östlich von Äthiopien am Roten Meer liegt, den christlichen Kaiser an – mit den besten Segenswünschen und der großzügigen militärischen Unterstützung des Sultans von Ägypten.«
Arslan grinst. »Lass mich raten, wer die Verhandlungen geführt hat. Du? Wer sonst.«
»Dieser Krieg zwischen Zara Yakob und Bedlay dauert nun schon zwei Jahre, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Muslime den Christen unterliegen. Jaqmaq lässt seine Wut an den ägyptischen Christen aus. Du weißt ja, dass er Yoannis al-Maksi, den koptischen Papst, das geistliche Oberhaupt der koptischen wie der äthiopischen Kirche, in die Zitadelle von Al-Kahira verschleppt hat und ihn dort foltern lässt.«
Arslan nickt.
»Jaqmaq hat Seiner Heiligkeit verboten, ohne meine Kenntnis und ohne seine ausdrückliche Erlaubnis mit Kaiser Zara Yakob oder den Abunas Gabriel und Mikael, den Patriarchen von Äthiopien, zu korrespondieren. Papst Yoannis wird sterben, wenn Zara Yakob den ägyptischen Gesandten nicht unversehrt nach Al-Kahira zurückschickt.«
»Unser Vater hat großen Respekt vor dem äthiopischen Kaiser«, brummt Arslan.
»Die salomonische Dynastie ist eine ernst zu nehmende militärische Macht mit einem schlagkräftigen Heer. Wusstest du, dass Kaiser David, Zara Yakobs Vater, vor sechzig Jahren einen Feldzug gegen Ägypten geführt hat?«
Arslan blickt mich verdutzt an. »Nein.«
»Bis zum nördlichsten Nilkatarakt ist er vorgedrungen und hätte beinahe Assuan erobert.«
»Um Gottes willen!«
»Kaiser David wollte Jeruschalajim und das Grab Christi von der muslimischen Herrschaft befreien – er war also auf einem Kreuzzug. Zara Yakobs militärische Macht ist nicht geringer als die seines Vaters. Sein heiliger Zorn auf die Muslime, die in Ägypten seine Glaubensbrüder verfolgen, lodert wie Feuer, und Mekka ist nicht weit entfernt.«
»Ein christliches Mekka?«, ächzt Arslan. »Das Kreuz über der Kaaba im Innenhof der großen Moschee?«
»Nach Einschätzung des Großmeisters des Johanniterordens von Rhodos könnte Zara Yakob nicht nur Mekka, sondern auch Ägypten angreifen und vernichten.«
»Allah steh uns bei!«, flüstert Arslan bestürzt.
»Deshalb haben die Sultane von Ägypten seit Salah ad-Din versucht, den Kontakt zwischen den Herrschern
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