Der Gottesschrein
sämtliche wortfunkelnden Hoheitstitel jüdischer Könige umgehängt haben, die sie dem Judentum entwenden und an sich reißen konnten, um ihn in eine leuchtende Aura von Göttlichkeit zu hüllen: gesalbter Messias, Erlöser, Gottesknecht, Davidssohn, Menschensohn und Gottessohn. Der äthiopische Iyasus ist sehr menschlich. Und liebenswert.
Die Mönche, die gerade ihre Andacht in Geez, in der heiligen liturgischen Sprache der Äthiopier, beendet haben, tragen schwarze und blaue Gewänder und stützen sich auf lange Gebetsstäbe, die sie sich während der Messe unter den Arm geklemmt haben. Als ich die Kapelle betrete, bilden sie eine Gasse, um mich durchzulassen, und verhüllen Mund und Nase mit den Tuchstreifen ihrer Turbane.
Der Altar ist eine große Truhe, die mit golddurchwirktem Brokat drapiert ist. Darauf steht eine kleinere Lade, die vollständig verhüllt ist.
Unter einem mit Ikonen bestickten Schirm schwingt Gebre Christos sein Handkreuz aus ineinander verschlungenen silbernen Ornamenten und erteilt den Mönchen seinen Segen, die das Kreuz mit den Lippen und der Stirn berühren und dann mit gesenktem Kopf zurücktreten. In der anderen Hand hält er den unvermeidlichen Fliegenwedel der Priester.
Gebre Christos, sein Name bedeutet ›Diener Christi‹, hat sich in den zwei Jahren, seit er aus Florenz abgereist ist, kaum verändert. Seine schwarze Haut schimmert unter dem weißen Bart wie dunkles Ebenholz, die Augen in einem Strahlenkranz aus kleinen Fältchen künden von einer Glut unter der scheinbar ausgebrannten Asche, die stetig knistert und nicht verlöschen will. Wie alt mag er sein? Mit einem jungenhaften Lächeln hat er mir in Florenz erzählt, er sei um das Weltjahr 6865 geboren, aber so genau könne er das nicht sagen – jedenfalls habe er erst nach der Herrschaft von König Salomo das Licht der Welt erblickt. Ich schätze ihn auf fünfundachtzig.
Er blinzelt mich kurzsichtig an und schlägt das Kreuz über mir. »Alessandra, mein liebes Kind, du bist in Jerusalem!«, begrüßt er mich auf Arabisch, umarmt mich herzlich und lehnt sich dabei gegen mich. »Wie schön, dich zu sehen!«
»Ehrwürdiger Vater, vor meiner Abreise aus Rom bat mich der Papst, dir seine Segenswünsche zu übermitteln.«
»Ich danke dir, mein Kind. Wie geht es ihm?«
»Das Konzil hat ihn viel Kraft gekostet. Papst Eugenius ist sehr krank. Ich fürchte, ihm bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Die Kirchenunion wird scheitern, wenn er jetzt stirbt. Denn sie besteht doch nur auf dem Pergament, das der Papst von Rom und der Kaiser von Byzanz unterzeichnet haben«, prophezeit Gebre Christos düster. »Der byzantinische Kaiser muss einen Aufstand der orthodoxen Gläubigen befürchten, wenn er lateinische Messen in der Hagia Sophia lesen lässt. Auf einer Synode vor zwei Jahren hier in Jerusalem zwangen die orthodoxen Patriarchen deinen ›geliebten Schwager‹, Kaiser Ioannis, wieder zum orthodoxen Glauben zurückzukehren. Der Patriarch von Alexandria spielt sich zum Richter der Ökumene auf. Und der Patriarch von Jerusalem exkommuniziert jeden, der den Mut hatte, das Unionsdekret zu unterzeichnen, und damit zum Verräter an seinem Glauben wurde, allen voran Niketas.«
Ich nicke stumm.
»Wenn das Schisma zwischen Rom und Byzanz trotz der Union weiterbesteht, werden auch die Armenier, die Kopten und die Syrer den Primat des römischen Papstes nicht mehr anerkennen. Dann wird die Kirche von Iyasus Christos wieder sein, wie sie vorher war: zerstritten und zerspalten und uneins, sodass sie dem mit Feuer und Schwert vordringenden Islam keinen Einhalt gebieten kann.«
»Abuna, deine Prophezeiung ist erschreckend, aber wahr. Der Kreuzzug zur Rettung von Byzanz, den der Papst Kaiser Ioannis vor sechs Jahren in Aussicht gestellt hat, wird wohl niemals stattfinden. Der Doge von Venedig wird weder ein Heer noch venezianische Galeeren aufbieten, denn er ist, wie er selbst von sich sagt, zuerst Venezianer und dann erst Christ. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Türken Konstantinopolis erobern und Sultan Murad oder sein Sohn Mehmed das Banner des Propheten über der Hagia Sophia hissen lassen.«
»Obwohl sich die äthiopische Kirche der vereinigten Kirche aus dogmatischen Gründen nicht angeschlossen hat, erachtet Kaiser Zara Yakob die Einheit des Christentums gegenüber dem Islam für notwendig. Nicht zuletzt, um sich gegen die Mamelucken zu wehren. Ich werde für Papst Eugenius beten.«
»Ich werde es Seiner Heiligkeit
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