Der Gottesschrein
betretet während des Gottesdienstes nicht die Basilika, sondern betet draußen, bezeichnet euch stolz als Judenchristen und nennt euch Kinder Israels und Neues Zion.«
»Und unser Neguse Negest, unser König der Könige, der Erwählte Gottes, Kaiser Zara Yakob, stammt in direkter Blutlinie von König David und König Salomo ab.« Gebre Christos stößt die Tür zu seinen Gemächern auf. »Da sind wir. Tritt ein, mein Kind, und setz dich.«
Der Empfangsraum ist schlicht eingerichtet. Ein Diwan, auf dem Gebre Christos mit steifen Knien Platz nimmt, davor zwei Sitzkissen, die mit merkwürdigen schwarz-weiß gestreiften Fellen bedeckt sind – von einem Zebra, wie Gebre Christos erklärt.
Auf einem niedrigen Tisch aus Ebenholz und Elfenbein steht ein Straußenei, das offenbar als Räucherschale dient, denn aus Löchern in der Schale dringt ein schwerer, süßer Weihrauchduft. Daneben liegt ein alter Foliant aus steifem, gewelltem Ziegenleder, kostbar illuminiert und in Geez geschrieben.
An den Wänden hängen lederne Ikonen von Iyasus Christos. In Florenz hat Gebre Christos mir erzählt, dass es keine Abbildungen der Kreuzigung und der Grablegung gebe, weil sich die Gläubigen nicht für würdig erachten, den sterbenden Erlöser anzuschauen. Die Botschaft dieser herrlichen Ikonen lautet: Iyasus Christos lebt.
»Wie wäre es mit einem äthiopischen Kaffee? Bitter wie das Leben und süß wie die Liebe?«
»Sehr gern.«
Gebre Christos gibt meinen Wunsch an Tesfa Iyasus weiter, der neben der Tür wartet – ich kenne den Mönch, weil er seinen Abt nach Florenz begleitet hat. Währenddessen erhebe ich mich, um ein leuchtend buntes Lederbild an der Wand zu betrachten.
Ein bärtiger Mann und eine schöne Frau, beide in königlichem Ornat und unter einem Brokatschirm, der über sie gehalten wird, wenden sich einander zu und halten sich zärtlich an den Händen. Um sie herum, vor den Stufen, die zu den beiden Thronen hinaufführen, knien schwarze Menschen und bringen dem königlichen Paar Geschenke dar: den Stoßzahn eines Elefanten, ein Straußenei und kostbare Gefäße mit Weihrauch und Gold. Und was ist das? Ein niedliches Löwenjunges! Hinter einem gerafften Vorhang erkenne ich den Tempel von Jerusalem.
»Wundervoll, nicht wahr?«, fragt Gebre Christos, der mich beobachtet hat.
»Die Farben sind so lebendig. Wer sind die beiden?«
»König Salomo von Israel und Königin Makeda von Saba, die Begründer der salomonischen Dynastie. Die Szene zeigt den Besuch der Königin von Saba hier in Jerusalem, von dem auch das Alte Testament berichtet. Und dieses Buch.« Gebre Christos weist auf den Folianten aus Ziegenleder auf dem Tisch, der einen herben Duft verströmt. »Das Kebra Negest, die ›Herrlichkeit der Könige‹.«
Ich wende mich wieder dem ledernen Bild zu. »König Salomos Gesichtszüge sind schwarz.«
»Bei uns werden alle Menschen gleich dargestellt, ob sie nun schwarz oder weiß sind, Christen, Juden oder Muslime. Alle sind Kinder Gottes. Ich möchte dir das Bild gern schenken.«
»Das kann ich nicht annehmen, Abuna.«
»Doch, Alessandra, ich bitte dich. Nimm es von der Wand, und bring es her – denn über König Salomo und Königin Makeda willst du doch wohl mit mir reden, nicht wahr?«
»Und über die Tempelritter und den sagenhaften Priesterkönig Johannes.« Ich nehme wieder Platz und lege das Lederbild neben mich auf das Kissen.
Tesfa Iyasus ist für die Kaffeezeremonie zurückgekehrt – ein Ritual der äthiopischen Gastfreundschaft und eine Geste von Freundschaft und höchster Wertschätzung. Sobald der Mönch einen kleinen Ofen aufgebaut hat, in dem die Kohlen bereits glühen, verstreut er frisch geschnittenes Gras auf dem Boden und nimmt auf einem niedrigen Schemel Platz.
Schweigend, wie es dem Ritual entspricht, beobachten Gebre Christos und ich, wie der Mönch Kaffeebohnen in einer Pfanne auf den Kohlen röstet. Sobald der charakteristische Duft aufsteigt, wird von mir erwartet, dass ich mich über die Pfanne beuge, tief einatme und die Qualität des Kaffees beurteile, was ich auch tue: »Betam tiru no – Ein köstlicher Duft!« Das sind die einzigen Worte, die ich auf Amharisch beherrsche – Gebre Christos hat sie mich in Florenz gelehrt.
Tesfa Iyasus lächelt zufrieden, nimmt die Pfanne von den glühenden Kohlen, schüttet die heißen Kaffeebohnen in einen Steinmörser und mahlt sie langsam und bedächtig. Der Duft des Kaffees wird immer stärker. Das Pulver wird nun in die heiße
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