Der Gottesschrein
Kreuzes Christi zu erniedrigen und zu bekriegen und seinen Namen zu verherrlichen.« Sein Finger gleitet an den Zeilen entlang, dann liest er weiter. »Wenn du zu mir kommst, wirst du sagen, dass ich der Herr der ganzen Welt bin. Wenn du die Sterne des Himmels und den Sand des Meeres zu zählen vermagst, dann zähle meine Herrschaft und meine Macht.«
Gebre Christos lässt den Brief sinken.
»Ist Zara Yakob der Erbe des Priesterkönigs?«, bedränge ich ihn. »Ist er der mächtige christliche Herrscher, mit dem sich Dom Henrique verbünden will, um den Islam zu vernichten?«
Gebre Christos dreht bedächtig das Kaffeeglas in seinen Händen. Dann entscheidet er sich für ein klares »Nein.«
Als er meine Enttäuschung bemerkt, beugt er sich vor und legt mir sanft eine Hand auf den Arm: »Ich will es dir erklären, Alessandra. Dieser Brief ist ein Märchen. Der Fluss Ydonus mit seinen kostbaren Kieseln, die Quelle der ewigen Jugend, der prunkvolle Palast des Priesterkönigs – all das existiert nicht. Der Erwählte Gottes lebt nicht in einem Palast, sondern zieht mit seinem Hofstaat in einem riesigen Zeltlager durch das Reich und residiert in Aksum, in Lalibela oder in der Nähe eines der großen Klöster Debre Damo oder Tana Kirkos. Die Wunder von Äthiopien sind eindrucksvoller als dieses törichte Geflunker. Die Quellen des Nils, den wir Abay nennen. Die Tisisat-Wasserfälle, wo sich das Wasser des Nils mit einem durchdringenden Donnern in einen Abgrund stürzt und dabei so hoch aufspritzt, dass ständig ein Regenbogen über den Wasserfällen leuchtet. Das ›Neue Jerusalem‹ mit den monolithischen Felsenkirchen von Lalibela, die der Legende nach von Engeln aus dem roten Stein herausgemeißelt wurden. Die Steinstelen von Aksum, die höher sind als die ägyptischen Obelisken und von denen niemand weiß, wie sie aufgerichtet werden konnten. Und die Kathedrale Maryam Tseyon in Aksum, wo die Kaiser gesalbt werden. Von all diesen Wundern lese ich nichts in diesem Brief. Der Verfasser war niemals in Äthiopien. Denn sonst hätte er den Neguse Negest, den König der Könige, nicht als Priesterkönig beschrieben. Wie der byzantinische Kaiser und der römische Papst betrachtet sich der Neguse Negest als Stellvertreter Christi auf Erden. Aber er ist kein geweihter Priester.«
Ich nicke enttäuscht.
Unvermittelt greift Gebre Christos nach meinem Glas und schenkt mir zum vierten Mal ein. Das vierte Glas Kaffee ist eine hohe Auszeichnung, denn nur drei Gläser sind üblich. Danach sollte man aufstehen und sich verabschieden. Während er den Zucker in den Kaffee rinnen lässt und umrührt, murmelt er, noch ganz in Gedanken: »Es gibt eine Legende, die mir ein Priester in einer der Felsenkirchen von Lalibela erzählt hat – er schreibt sie für eine Chronik auf. Sie besagt, dass Prinz Lalibela vor seinem Bruder, Kaiser Harbay, der ihn ermorden wollte, aus Äthiopien floh und etliche Jahre im Exil in Jerusalem lebte.«
Ich nehme ihm das Glas aus der Hand. »Wann war das?«
»Vor 1189. Denn in diesem Jahr kehrte Lalibela nach Äthiopien zurück, bestieg als Neguse Negest den Thron, nahm den Thronnamen Gebre Maskal, ›Diener des Kreuzes‹, an und regierte vierzig Jahre lang bis 1229. Nachdem Sultan Salah ad-Din Jerusalem erobert hatte, erbaute Lalibela die nach ihm benannte Stadt mit den elf monolithischen Felsenkirchen aus rotem Stein als Neues Jerusalem.«
»Wenn Prinz Lalibela vor oder sogar während der Eroberung durch Salah ad-Din 1187 in Jerusalem war, hatte er vielleicht Kontakt zu den Tempelrittern?«
»Das ist denkbar.«
»Ist es möglich, dass die Tempelritter nach dem Fall Jerusalems Prinz Lalibela nach Äthiopien begleitet haben?«
· Yared ·
Kapitel 22
In Yareas Gemächern in der Zitadelle
16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
Karfreitag, 26. März 1445
Zehn Uhr dreißig morgens
Mit verschränkten Armen lehnt Benyamin in der offenen Tür meines Schlafgemachs und beobachtet, wie Saphira mir in die weiten Ärmel der Djellabiya aus indischer Seide hilft, die ich anlässlich des Freitagsgebets in der Al-Aqsa tragen will. Als sie mir den Spiegel vorhält, suche ich darin nicht mich, sondern Benyamin.
Nach unserem erbitterten Wortgefecht vor wenigen Minuten ist seine Miene verschlossen. Seine trotzige Haltung wirkt angespannt. Benyamin hat gemerkt, dass ich ihn im Spiegel beobachte, und er meidet meinen Blick.
Seit ich mit Aron gesprochen habe, verbeißt er sich in sein Schweigen. Was empfindet er nach
Weitere Kostenlose Bücher