Der Gottesschrein
Nachdem ich den Brief des Priesterkönigs nochmals gelesen habe, glaube ich, dass es an den Quellen des Nils liegt.«
Gebre Christos runzelt die Stirn.
»Ich glaube, dass Dom Tristão im Geheimarchiv des Vatikans nach einem Beweis dafür suchte, dass die Tempelritter mit dem Priesterkönig in Verbindung standen, und dass der Christusritter nach einem Bericht mit genauen geografischen Angaben suchte, die es den Karavellen des Christusordens ermöglichen würden, den Kontinent zu umsegeln und das Reich im Osten Afrikas zu erreichen. Das Reich, das gleichzusetzen ist mit dem Goldland Ophir, wohin König Salomo seine Flotte schickte, um das Gold für seinen Tempel nach Jerusalem zu bringen. Und mit dem Weihrauchland der Königin von Saba. Im Alten Testament wird sie in einem Atemzug mit dem Goldland genannt.«
Gebre Christos deutet auf das Lederbild neben mir auf dem Sitz. »›Und die Königin von Saba hörte von Salomos Ruf. Und sie kam nach Jerusalem, um Salomo mit Rätselfragen zu prüfen, mit einem sehr zahlreichen Gefolge und mit Kamelen, die Balsamöle und Gold trugen und Edelsteine. Und sie kam zu Salomo und redete mit ihm über alles, was in ihrem Herzen war‹«, zitiert er aus dem Gedächtnis.
»Aus einem Bericht von zwei Kardinallegaten, die vor einigen Jahren in Valencia einer Audienz des Botschafters des Priesterkönigs bei König Alfonso von Aragón beiwohnten und anschließend meinem Cousin Papst Martin berichteten, weiß ich, dass sich der Priesterkönig selbst als Sohn Davids bezeichnet. Und dass König Salomo und die Königin von Saba die Blutlinie der salomonischen Dynastie begründeten.«
»Wann fand diese Audienz in Valencia statt?«
»Vor siebzehn Jahren.«
Gebre Christos nickt bedächtig. »Ja, ich erinnere mich. Ich war damals gerade von Jerusalem nach Aksum zurückgekehrt. Kaiser Yeshaq, der ältere Bruder von Zara Yakob, hat eine Delegation nach Aragón entsandt, um Alfonso eine dynastische Verbindung vorzuschlagen. Wenn ich mich recht entsinne, wollte Yeshaq eine Prinzessin von Aragón heiraten und in seinen Harem aufnehmen.«
Also doch!, denke ich mit klopfendem Herzen. Beide Kardinäle hatten Yeshaq als König der Könige bezeichnet, als Sohn Davids und Salomos und als Priesterkönig.
»Dann ist der äthiopische Kaiser der Nachkomme des legendären Priesterkönigs Johannes?«, frage ich hoffnungsvoll.
Gebre Christos antwortet nicht sofort. »Dein Glas ist leer, Alessandra. Willst du noch einen Kaffee?«
»Ja, gern.«
Während er mir einschenkt, fragt er: »Darf ich den Brief des Priesterkönigs lesen?«
Ich gebe ihm die Abschrift. Weil er kurzsichtig ist, hält er sich den lateinischen Text ganz nah vor die Augen und blinzelt immer wieder beim Lesen. »Priester Johannes, durch die Macht und Kraft Gottes und unseres Herrn Jesus Christus König der Könige …«
»Was ist?«, frage ich irritiert, als er zu schmunzeln und schließlich zu lachen beginnt, doch er hebt die Hand und bittet mich um Geduld, bis er zu Ende gelesen hat. Dann stockt er, lässt den Brief auf seine Knie sinken und sieht auf.
»Sieh mal einer an, die Quelle der ewigen Jugend entspringt also auch in seinem Reich!« Er lacht. »Das wusste ich nicht.«
»Abuna, bitte …«
»Einen Augenblick noch, mein Kind.« Er nippt an seinem Kaffee und widmet sich wieder dem Brief: »In unserem Reich leben schwarze Juden, die einem König dienen, der mir unterworfen und tributpflichtig ist … Elefanten, Nilpferde, Krokodile und Löwen …«, murmelt Gebre Christos vergnügt, während er weiterliest, »… und der Fluss Ydonus fließt durch mein Reich. Er entspringt im Paradies und führt Edelsteine wie Kiesel mit sich: Saphire, Topase, Onyxe …«
»Ich glaube, dass der Ydonus der Nil ist«, werfe ich unruhig ein. »Die kostbaren Steine sind eine Metapher für den unschätzbar wertvollen Nilschlamm, der Ägypten während der jährlichen Nilflut fruchtbar macht. Die Ernten machen den Mameluckensultan zu einem der reichsten und mächtigsten Herrscher.«
»Aber nur, solange der äthiopische Kaiser den Nil nicht umleitet und Ägypten in eine Wüste verwandelt, die Kairo unter ihren Sanddünen begräbt«, brummt Gebre Christos. Eine Weile liest er stumm, nur seine Lippen bewegen sich. Dann blickt er auf und liest mir vor:
»Ich bin ein frommer Christ. Überall verteidige ich die Christen. Ich habe gelobt, das Grab des Herrn mit einem mächtigen Heer zu besuchen, wie es dem Ruhm meiner Majestät entspricht, die Feinde des
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