Der Gotteswahn
für unser Verständnis der religiösen Meme und ihrer Funktionsweise von entscheidender Bedeutung.
In den verschiedenen Genpools bilden sich unterschiedliche Gengruppen heraus. Gene im Genpool der Raubtiere programmieren Sinnesorgane zum Aufspüren von Beutetieren, Klauen zum Festhalten der Beute, Reißzähne, Fleisch verdauende Enzyme und vieles andere mehr; alle diese Gene sind genau so abgestimmt, dass sie gut zusammenwirken. Gleichzeitig werden im Genpool der Pflanzenfresser andere Gruppen untereinander verträglicher Gene wegen ihres Zusammenwirkens begünstigt. Dass ein Gen bevorzugt wird, wenn der zugehörige Phänotyp zur äußeren Umwelt der Spezies – Wüste, Wald oder was auch immer – passt, ist für uns ein vertrauter Gedanke. Mit geht es jetzt darum, dass es auch begünstigt wird, wenn es sich gut mit den anderen Genen seines jeweiligen Genpools verträgt. Ein Raubtiergen würde im Genpool eines Pflanzenfressers nicht erhalten bleiben, und umgekehrt.
Aus der langfristigen Sicht der Gene stellt der Genpool einer Spezies – der Gesamtbestand der Gene, die durch die sexuelle Fortpflanzung immer wieder neu gemischt werden – die genetische Umwelt dar, in der jedes einzelne Gen anhand seiner Fähigkeit zum Zusammenwirken selektiert wird. Auch wenn Mempools weniger stark reglementiert und strukturiert sind als Genpools, können wir den Mempool als wichtigen Bestandteil der »Umwelt« jedes Mems im Memplex bezeichnen.
Ein Memplex ist eine Gruppe von Memen, die allein nicht unbedingt eine gute Überlebensfähigkeit besitzen, in Gegenwart der anderen Meme ihres Memplexes jedoch erhalten bleiben. Im vorangegangenen Abschnitt habe ich bezweifelt, dass die Evolution der Sprache in ihren Details von irgendeiner Form der natürlichen Selektion begünstigt wurde. Ich habe die Vermutung geäußert, dass die Sprachevolution vielmehr durch zufällige Verschiebungen vorangetrieben wird. Allerdings kann man sich vorstellen, dass bestimmte Vokale oder Konsonanten in gebirgigem Gelände besser über große Entfernungen tragen und deshalb beispielsweise zu charakteristischen Merkmalen der Dialekte von Schweizern, Tibetanern oder Andenvölkern wurden, während andere Laute sich eher für das Flüstern im dichten Wald eignen und deshalb Eingang in die Sprachen von Pygmäen oder Amazonasindianern fanden. Aber die frühneuenglische Vokalverschiebung, die ich als Beispiel für die natürliche Selektion in der Sprachentwicklung genannt habe, gehört nicht in diese Kategorie. Sie hat vielmehr damit zu tun, dass Meme in wechselseitig verträgliche Memplexe passen. Zunächst verschob sich ein Vokal aus unbekannten Gründen – vielleicht als modische Nachahmung einer bewunderten oder mächtigen Person, wie es bei der Entstehung der spanischen Lispellaute gewesen sein soll. Aber ganz gleich, wie die frühneuenglische Vokalverschiebung begann: Nachdem sich der erste Vokal verändert hatte, mussten sich nach dieser Theorie in der Folge auch andere wandeln, damit Zweideutigkeiten vermieden wurden, und so immer weiter. In diesem zweiten Entwicklungsstadium wurden Meme vor dem Hintergrund bereits vorhandener Mempools selektiert und bildeten einen neuen Memplex aus untereinander verträglichen Memen.
Damit haben wir nun endlich die Voraussetzungen geschaffen, um uns der memetischen Theorie der Religion zuwenden zu können. Manche religiösen Gedanken überleben vielleicht wie manche Gene wegen ihrer absoluten Leistung. Solche Meme würden in jedem Mempool erhalten bleiben, ganz gleich, von welchen anderen Memen sie umgeben sind. (Ich muss noch einmal daran erinnern, dass »Leistung« hier nur »Überlebensfähigkeit im Mempool« bedeutet. Darüber hinaus verbindet sich mit dem Wort kein Werturteil.) Manche religiösen Ideen überleben, weil sie sich mit anderen Memen vertragen, die im Mempool bereits in großer Zahl vorhanden sind – das heißt, sie werden zu Teilen eines Memplexes. Die nachfolgende unvollständige Liste führt religiöse Meme auf, von denen man sich ohne weiteres vorstellen kann, dass sie im Mempool entweder wegen ihrer absoluten »Leistung« oder wegen ihrer Verträglichkeit mit dem vorhandenen Memplex erhalten bleiben:
• Du lebst nach dem Tod weiter.
• Wenn du als Märtyrer stirbst, kommst du in einen besonders schönen Teil des Paradieses, wo dir zweiundsiebzig Jungfrauen zu Diensten sind (man denke auch einmal kurz an diese unglückseligen Jungfrauen!).
• Ketzer, Gotteslästerer und
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