Der Gotteswahn
Dann plötzlich erkennt der Einheimische, dass er des Rätsels Lösung gefunden hat. Diese unbegreiflichen Tätigkeiten sind die Rituale, mit denen der weiße Mann die Götter dazu bringt, ihnen Fracht zu schicken. Wenn der Einheimische die Fracht haben will, muss er ebenfalls solche Dinge tun.
Auffälligerweise entstanden die Cargo-Kulte unabhängig voneinander auf verschiedenen Inseln, zwischen denen geografisch und kulturell große Abstände lagen. Attenborough berichtet:
Die Anthropologen stellten zwei getrennte Ausbrüche in Neukaledonien fest, vier auf den Salomonen, vier auf den Fidschi-Inseln, sieben auf den Neuen Hebriden und über fünfzig in Neuguinea, die meisten davon unabhängig und ohne Zusammenhang mit anderen. In ihrer Mehrzahl behaupteten diese Religionen, ein bestimmter Messias werde die Fracht bringen, wenn der Tag des Weltunterganges gekommen sei.
Dass so viele ähnliche Kulte unabhängig voneinander aufblühten, lässt auf einheitliche allgemeine Eigenschaften der menschlichen Psyche schließen.
Einen berühmten Kult auf der Insel Tanna, die zu den Neuen Hebriden (seit 1980 Vanuatu) gehört, gibt es noch heute. In seinem Mittelpunkt steht eine Messiasgestalt namens John Frum. Erwähnungen von John Frum in offiziellen staatlichen Dokumenten reichen bis in die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts zurück, doch man weiß, obwohl der Mythos noch so jung ist, nicht genau, ob ein echter Mensch dieses Namens existiert hat. Einer Legende zufolge war er ein kleiner Mann mit hoher Stimme und ausgeblichenen Haaren, der einen Mantel mit glänzenden Knöpfen trug. Er machte seltsame Prophezeiungen und gab sich große Mühe, die Menschen gegen die Missionare aufzuwiegeln. Schließlich kehrte er zu den Vorfahren zurück, nachdem er versprochen hatte, er werde im Triumph zurückkehren und üppige Fracht mitbringen. Seine Vision der Apokalypse beinhaltete »eine große Katastrophe; die Berge werden flach zusammenfallen, und die Täler werden aufgefüllt«. [34] Alte Menschen sollten ihre Jugend wiedergewinnen, Krankheiten sollten verschwinden; die Weißen würden von der Insel vertrieben werden und nie wiederkommen; und die Fracht werde in großen Mengen eintreffen, sodass alle so viel bekämen, wie sie haben wollten.
Beunruhigender für die Regierung war eine zweite Prophezeiung von John Frum: Er erklärte, bei seiner Wiederkehr werde er neue Münzen mitbringen, auf denen das Bild einer Kokosnuss eingeprägt sei. Deshalb müssten die Menschen ihr ganzes Geld in der Währung der Weißen loswerden. Dies führte 1941 zu einer gewaltigen Orgie des Geldausgebens; die Menschen arbeiteten nicht mehr, und die Wirtschaft der Insel nahm schweren Schaden. Die Kolonialverwaltung ließ die Rädelsführer verhaften, aber was sie auch unternahm, sie konnte den Kult nicht abwürgen; Missionskirchen und -schulen standen leer.
Etwas später machte sich eine neue Lehre breit: Danach war John Frum König von Amerika. Wie es das Schicksal wollte, kamen ungefähr zu dieser Zeit amerikanische Truppen auf die Neuen Hebriden, und Wunder über Wunder, unter ihnen waren auch Schwarze, die nicht arm waren wie die Inselbewohner, sondern
ebenso reich mit Fracht ausgestattet wie die weißen Soldaten. Auf Tanna machte sich heftige Aufregung breit. Der Tag der Apokalypse musste unmittelbar bevorstehen. Anscheinend bereiteten sich alle auf die Wiederkehr von John Frum vor. Einer der Anführer sagte, John Frum werde mit dem Flugzeug aus Amerika kommen, also rodeten Hunderte von Männern das Buschwerk in der Mitte der Insel, damit das Flugzeug eine Landebahn hatte.
Neben der Landepiste stand ein Kontrollturm aus Bambus, und darin saßen »Fluglotsen«, die Kopfhörerattrappen aus Holz trugen. Auf der »Startbahn« standen Flugzeugattrappen, die als Täuschung dienen und John Frums Flugzeug anlocken sollten.
In den Fünfzigerjahren reiste der junge David Attenborough mit dem Kameramann Geoffrey Mulligan nach Tanna, um den John-Frum-Kult genauer zu erforschen. Sie fanden viele Spuren der Religion und wurden schließlich mit dem Oberpriester bekannt gemacht, einem Mann namens Nambas. Dieser nannte seinen Messias ganz vertraulich John und behauptete, er würde regelmäßig über »Funk« mit ihm sprechen. Das Funkgerät (»Funk gehören John«) bestand aus einer alten Frau, die sich einen Draht um die Taille gewickelt hatte, in Trance verfiel und Kauderwelsch redete, das Nambas dann als die Worte John Frums deutete. Der Priester
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