Der Gotteswahn
sondern um das Nachzeichnen , so würde die Genauigkeit der Zeichnungen von der ersten bis zur zehnten Generation mit Sicherheit abnehmen.
In einem solchen Experiment mit Zeichnungen würden alle Bilder aus der zehnten Generation eine gewisse Ähnlichkeit mit denen der Generation Nummer 1 aufweisen, und innerhalb jedes Teams würde die Ähnlichkeit im Laufe der Generationen mehr oder weniger stetig abnehmen. In der Origami-Version dagegen ist ein Fehler ein Alles-oder-Nichts-Ereignis: Hier spielen sich »digitale« Mutationen ab. Entweder macht ein Team keine Fehler und die Generation 10 ist im Durchschnitt nicht schlechter als die Generation 5 oder 1, oder in einer Generation spielt sich eine »Mutation« ab, und alle nachfolgenden Bemühungen, in denen die Mutation meist genau nachvollzogen wird, sind völlig zum Scheitern verurteilt.
Wo liegt der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Experimenten? Origami besteht aus einer Abfolge genau abgegrenzter Handgriffe, von denen jeder einzelne leicht zu erlernen ist. Die meisten Einzelschritte sind Anweisungen wie »Beide Seiten zur Mitte falten«. Selbst wenn ein einzelner Teamangehöriger diese Anweisung vielleicht unvollkommen ausführt, ist für den nächsten dennoch klar, was er tun wollte. Origami besteht aus »selbstnormalisierenden« Einzelschritten, die damit »digital« sind. Es ist das Gleiche wie bei dem Schreinermeister: Seine Absicht, den Nagelkopf bündig ins Holz zu schlagen, ist für den Lehrling ohne weiteres zu erkennen – die Details der einzelnen Hammerschläge spielen dabei keine Rolle. Entweder man führt einen Schritt der Origami-Anleitung aus, oder man führt ihn nicht aus. Zeichnen dagegen ist ein analoger Vorgang. Versuchen kann es jeder, aber manche Menschen kopieren eine Zeichnung genauer als andere, und niemand kopiert sie hundertprozentig exakt. Wie originalgetreu eine Kopie ist, hängt aber auch davon ab, wie viel Zeit und Sorgfalt man auf ihre Anfertigung verwendet, und das sind stufenlos veränderliche Größen. Darüber hinaus werden manche Teammitglieder das Vorbild aus der vorigen Generation nicht genau nachzeichnen, sondern ausschmücken und »verbessern«.
Worte sind – zumindest wenn sie verstanden werden – ebenso selbstnormalisierende Gebilde wie die Handgriffe beim Origami. In dem ursprünglichen »Stille Post«-Spiel hört das erste Kind eine Geschichte oder einen Satz, den es dem nächsten Kind weitersagen soll, und so weiter. Umfasst der Satz weniger als sieben Wörter in der Muttersprache der Kinder, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit über zehn Generationen hinweg ohne Mutationen überleben. Handelt es sich dagegen um eine Fremdsprache, sodass die Kinder nicht Wort für Wort nachsprechen können, sondern den Klang phonetisch nachahmen müssen, bleibt der Inhalt nicht erhalten. Der Verfall läuft dann über die Generationen hinweg nach dem gleichen Prinzip ab wie bei der Zeichnung, und der Inhalt geht verloren. Wenn die Nachricht in der Muttersprache der Kinder einen Sinn hat und keine ungewohnten Wörter wie »Phänotyp« oder »Allel« enthalten sind, bleibt er erhalten. Dann ahmt das Kind die Laute nicht phonetisch nach, sondern erkennt jedes Wort als Element eines begrenzten Wortschatzes, und wenn es die Nachricht an das nächste Kind weitergibt, wählt es wieder das gleiche Wort, auch wenn es vermutlich in einem etwas anderen Tonfall ausgesprochen wird. Auch geschriebene Sprache normalisiert sich selbst: Ganz gleich, wie die Haken und Kringel auf dem Papier sich in den Einzelheiten unterscheiden, sie stammen alle aus einem endlichen Alphabet von (beispielsweise) 26 Buchstaben.
Die Tatsache, dass Meme durch solche selbstnormalisierenden Vorgänge manchmal sehr originalgetreu weitergegeben werden, ist eine ausreichende Antwort auf die häufigsten Einwände gegen die Analogie von Genen und Memen. Ohnehin verfolgt die Memtheorie in ihrem jetzigen frühen Entwicklungsstadium nicht das Ziel, eine umfassende Erklärung für die Kultur zu liefern und sich auf eine Stufe mit der Watson-Crick-Genetik zu stellen. Ursprünglich entwickelte ich die Idee der Meme, weil ich dem Eindruck entgegenwirken wollte, das einzige darwinistische Phänomen sei das Gen – es bestand die Gefahr, dass mein Buch The Selfish Gene (Das egoistische Gen) einen solchen Eindruck vermittelte.
Auf diesen Punkt weisen auch Peter Richerson und Robert Boyd in ihrem wertvollen, gut durchdachten Buch Not by Genes Alone (»Nicht allein durch
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