Der Gotteswahn
Gebietes der darwinistischen Ethik, sondern es erläutert auch besonders gut die Frage des Rufes. [37]
Eine weitere faszinierende Idee steuerten der norwegisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Thorstein Veblen und – auf ganz andere Weise – der israelische Zoologe Amotz Zahavi bei. Altruistisches Geben kann Werbung für die eigene Dominanz oder Überlegenheit sein. Anthropologen kennen den »Potlatch-Effekt«; der Name erinnert an die Sitte der rivalisierenden Indianerhäuptlinge im Nordwesten Nordamerikas, die sich gegenseitig mit immer üppigeren, ruinösen Festen überboten. Im Extremfall setzen sich die gegenseitigen Einladungen zum Gelage so lange fort, bis eine Seite in Armut versinkt, wobei es dem Sieger jedoch kaum besser ergeht. Veblens Begriff des »demonstrativen Konsums« (conspicuous consumption) kommt vielen Beobachtern des modernen Lebens durchaus bekannt vor. Zahavis Beitrag dagegen blieb bei den Biologen über viele Jahre hinweg unbeachtet, bis er durch ausgezeichnete mathematische Modelle des Theoretikers Alan Grafen bestätigt wurde: Es handelt sich um eine evolutionsorientierte Version des Potlatch-Begriffs.
Zahavi beschäftigte sich mit Graudrosslingen, kleinen, braunen Vögeln, die soziale Gruppen bilden und gemeinsam brüten. Wie viele kleine Vögel stoßen auch die Graudrosslinge Warnschreie aus und geben sich gegenseitig Futter ab. In der üblichen darwinistischen Untersuchung solcher altruistischen Verhaltensweisen würde man unter den Vögeln zuerst nach Gegenseitigkeit und Verwandtschaftsbeziehungen suchen. Erwartet ein Graudrossling, der einen Artgenossen füttert, dass er selbst später auch umgekehrt gefüttert wird? Oder ist der Nutznießer ein genetisch enger Verwandter? Zahavi liefert eine überraschende Interpretation: Dominante Graudrosslinge sichern sich ihre Herrschaft, indem sie die Untergebenen füttern. Um die vermenschlichte Sprache zu benutzen, die Zahavi so großes Vergnügen bereitet: Der dominante Vogel sagt so etwas wie »Sieh nur, wie haushoch ich dir überlegen bin – Ich kann es mir leisten, dir etwas zu fressen zu geben«. Oder: »Sieh nur, wie haushoch ich dir überlegen bin – ich kann es mir sogar leisten, mich für die Falken angreifbar zu machen; ich sitze auf einem hohen Ast, spiele den Wächter und warne alle übrigen Vögel des Schwarms, die am Boden nach Nahrung suchen.«
Zahavis Beobachtungen und die seiner Kollegen lassen darauf schließen, dass die Graudrosslinge aktiv um die gefährliche Aufgabe des Wächters konkurrieren. Versucht ein untergeordneter Vogel, einem dominanten Artgenossen Futter anzubieten, so wird diese scheinbare Großzügigkeit energisch zurückgewiesen. Im Wesentlichen lautet Zahavis Aussage: Die Zurschaustellung von Überlegenheit wird durch den Aufwand glaubwürdig. Nur ein wirklich überlegener Vogel kann es sich leisten, diese Tatsache mit einem kostbaren Geschenk zu bekräftigen.
Ein Individuum erkauft sich seinen Erfolg – zum Beispiel beim Anlocken von Paarungspartnern – mit einer kostspieligen Demonstration der Überlegenheit, zu der betonte Großzügigkeit und die Übernahme von Risiken im Interesse der Allgemeinheit gehören.
Damit haben wir nun vier stichhaltige darwinistische Gründe, warum Individuen untereinander altruistisch, großzügig, oder »moralisch« handeln. Der erste betrifft den Sonderfall der Verwandtschaft. Der zweite ist die Gegenseitigkeit: Gefälligkeiten werden vergolten und in »Erwartung« eines solchen Gegengefallens erwiesen. Darauf folgt sofort der dritte: der darwinistische Vorteil, den es bedeutet, wenn man sich den Ruf der Großzügigkeit und Freundlichkeit erwirbt. Und wenn Zahavi recht hat, gibt es viertens den speziellen, unmittelbaren Nutzen der zur Schau gestellten Großzügigkeit als Mittel, um für sich selbst authentische, unverfälschte Reklame zu machen.
Während des größten Teils unserer Vorgeschichte wurde die Evolution aller vier Formen des Altruismus durch die Lebensbedingungen der Menschen stark begünstigt. Die Menschen lebten in Dörfern oder – noch früher – in eigenständigen Gruppen, die wie Paviane durch die Gegend zogen und von Nachbargruppen oder anderen Dörfern mehr oder weniger stark isoliert waren. Die meisten Angehörigen einer solchen Gruppe waren untereinander enger verwandt als mit den Mitgliedern anderer Gruppen – womit sich eine Fülle von Gelegenheiten für die Evolution von Verwandtschaftsaltruismus bot. Und unabhängig davon, ob sie
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