Der Gotteswahn
auf Gegenseitigkeit wird möglich, weil sowohl in den Bedürfnissen als auch in der Fähigkeit zu ihrer Befriedigung eine Asymmetrie besteht. Das ist der Grund, warum sie zwischen unterschiedlichen Arten besonders gut funktioniert. Die Asymmetrie ist einfach größer.
Wir Menschen haben Schuldscheine und Geld als Hilfsmittel, um solche Transaktionen auch mit Verzögerung zu ermöglichen. Die Handelspartner müssen sich ihre Güter nicht zur gleichen Zeit übergeben, sondern können für die Zukunft Schulden machen und diese sogar an andere weiterverkaufen.
Soweit mir bekannt ist, gibt es außer bei den Menschen bei keiner Tierart eine unmittelbare Entsprechung zum Geld. Aber auf formlosere Weise erfüllen Erinnerungen an die individuelle Identität die gleiche Funktion. Vampirfledermäuse lernen, bei welchen Individuen in ihrer sozialen Gruppe sie sich darauf verlassen können, dass Schulden (in Form von hochgewürgtem Blut) zurückgezahlt werden und welche Individuen Betrüger sind. Die natürliche Selektion begünstigt Gene, die das Individuum in Beziehungen mit ungleich verteilten Bedürfnissen und Gelegenheiten dazu veranlassen, etwas zu geben, wenn es dazu in der Lage ist, und sonst um etwas zu bitten. Außerdem begünstigt sie auch die Neigung, sich an Verpflichtungen zu erinnern, Groll zu hegen, Tauschbeziehungen zu überwachen und Betrüger zu bestrafen, die zwar nehmen, aber nicht geben, wenn sie an der Reihe sind.
Betrüger wird es immer geben, und eine tragfähige Lösung für das spieltheoretische Dilemma des gegenseitigen Altruismus beinhaltet stets ein Element der Bestrafung unehrlicher Zeitgenossen. Für derartige »Spiele« lässt die mathematische Theorie zwei weit gefasste Klassen stabiler Lösungen zu. »Immer fies sein« ist stabil, denn wenn alle anderen es genauso machen, kann ein einzelnes freundliches Individuum nichts erreichen. Es gibt aber noch eine zweite stabile Strategie. (»Stabil« bedeutet hier: Sobald die Lösung in der Bevölkerung eine gewisse kritische Verbreitung überschritten hat, gibt es keine bessere Alternative.) Das ist die Strategie nach dem Motto »Sei von Anfang an nett und unterstelle auch anderen im Zweifel nur Gutes. Zahle Gutes mit Gutem heim, aber ahnde schlechte Taten.« In der Sprache der Spieltheorie trägt diese Strategie (oder Gruppe ähnlicher Strategien) verschiedene Namen; häufig wird sie als »Wie du mir, so ich dir« oder »Schlag und Gegenschlag« bezeichnet. In der Evolution ist sie unter bestimmten Bedingungen stabil, das heißt, in einer Population, in der die Mehrheit nach diesem Prinzip verfährt, schneidet weder ein einzelnes fieses Individuum noch eines, das bedingungslos nett ist, besser ab. Es gibt noch andere, kompliziertere Varianten des »Wie du mir, so ich dir«, denen es unter bestimmten Umständen besser ergeht.
Ich habe Verwandtschaft und gegenseitigen Nutzen als Säulen des Altruismus in der darwinistischen Welt bezeichnet, aber darüber hinaus gibt es auch sekundäre Strukturen, die auf diesen großen Pfeilern ruhen. Insbesondere in der Gesellschaft der Menschen, in der es Sprache und Tratsch gibt, ist der Ruf sehr wichtig. Jemand kann beispielsweise in dem Ruf stehen, freundlich und großzügig zu sein, und ein anderer steht in dem Ruf, unzuverlässig zu sein, zu betrügen und sich nicht an Abmachungen zu halten. Von einem Dritten weiß man vielleicht, dass er großzügig ist, wenn man sein Vertrauen erworben hat, dass er Hinterlist jedoch erbarmungslos bestraft. Die nüchterne Theorie des gegenseitigen Altruismus sagt voraus, dass das Verhalten aller Tierarten seine Grundlage in unbewussten Reaktionen auf solche Eigenschaften der Artgenossen hat.
In unserer menschlichen Gesellschaft verbreiten wir den Ruf zusätzlich durch die Macht der Sprache, und zwar meist in Form von Tratsch. Wir müssen nicht selbst darunter gelitten haben, dass X es versäumt hat, in der Kneipe eine Runde auszugeben, als er an der Reihe war. Unter Umständen wissen wir nur vom Hörensagen, dass X ein Geizkragen ist oder – um dem Beispiel eine ironische Komplikation hinzuzufügen – dass Y entsetzlich viel tratscht. Der Ruf ist wichtig, und die Biologen können durchaus einen darwinistischen Überlebensvorteil darin erkennen, wenn man nicht nur Gutes mit Gutem vergilt, sondern sich auch den Ruf erwirbt, sich so zu verhalten. The Origins of Virtue (Die Biologie der Tugend) von Matt Ridley ist nicht nur eine aufschlussreiche Darstellung des gesamten
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