Der Gotteswahn
ist). Beides sind Fehlfunktionen, darwinistische Fehler – segensreiche, kostbare Fehler.
Man sollte keine Sekunde lang daran denken, in einer solchen darwinistischen Betrachtung eine Herabwürdigung oder Verunglimpfung edler Gefühle wie Mitleid und Großzügigkeit zu sehen. Das Gleiche gilt für den Sexualtrieb. Wenn sexuelles Verlangen durch die Kanäle der Sprachkultur gelenkt wird, kommt es in Form großartiger Dichtung und Dramatik wieder zum Vorschein, beispielsweise in den Liebesgedichten von John Donne oder als Shakespeares Romeo und Julia. Ebenso geht es natürlich mit dem fehlgeleiteten, auf Verwandtschaft oder Gegenseitigkeit beruhenden Mitleid. Aus dem Zusammenhang gerissen, erscheint die Gnade gegenüber einem Schuldner ebenso undarwinistisch wie die Adoption eines fremden Kindes. Im vierten Akt des Kaufmanns von Venedig sagt Shakespeare:
Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang:
Sie träufelt wie des Himmels milder Regen
Zur Erde unter ihr.
Sexuelle Begierde ist die Triebkraft für einen großen Teil aller Bestrebungen und Bemühungen der Menschen, und vieles davon sind Fehlfunktionen. Es gibt keinen Grund, warum das Gleiche nicht auch für das Bedürfnis gelten sollte, großzügig und mitfühlend zu sein, wenn es sich dabei um die fehlgeleiteten Folgen des vorzeitlichen Dorflebens handelt. Beide Bedürfnisse konnte die natürliche Selektion in alter Zeit am besten dadurch in uns verankern, dass sie Faustregeln ins Gehirn einprogrammierte. Diese Regeln wirken sich noch heute auf uns aus, obwohl sie sich unter den heutigen Bedingungen für ihre ursprünglichen Funktionen nicht mehr eignen.
Aber die Faustregeln beeinflussen uns nicht auf calvinistisch-deterministische Weise, sondern sie sind gefiltert: durch die kultivierenden Wirkungen von Literatur und Sitten, Gesetzen und Traditionen – und natürlich durch die Religion. Genau wie die primitive, im Gehirn eingepflanzte Regel der sexuellen Lust, die den Filter der Zivilisation durchläuft und in Form der Liebesszenen in Romeo und Julia wieder zum Vorschein kommt, so taucht auch die primitive Regel der Blutrache – »Wir gegen die anderen« – in Form des ständigen Kampfes zwischen Capulets und Montagues wieder auf. Und die primitiven Regeln von Altruismus und Mitgefühl erfreuen uns mit ihrer Fehlfunktion, die zur geläuterten Versöhnung in Shakespeares letzter Szene führt.
Eine Fallstudie über die Wurzeln der Moral
Wenn unser Moralgefühl seine Wurzeln tatsächlich wie unser Sexualtrieb tief in unserer darwinistischen Vergangenheit hat und viel älter ist als die Religion, sollte man damit rechnen, dass die Gehirnforschung einige allgemeine ethische Regeln aufdeckt, die über geografische und kulturelle Grenzen hinweg gültig sind, vor allem aber auch über die Grenzen der Religionen hinweg. Der Biologe Marc Hauser von der Harvard University beschäftigt sich in seinem Buch Moral Minds: How Nature Designed our Universal Sense of Right and Wrong (»Moralisches Denken: Wie die Natur unser universales Gefühl für Richtig und Falsch gestaltet hat«) sehr ausführlich mit einer aufschlussreichen Reihe von Gedankenexperimenten, die ursprünglich von Moralphilosophen erdacht wurden. Darüber hinaus ist Hausers Studie auch nützlich, weil sie einen Einblick in die Denkweise von Moralphilosophen liefert. Man postuliert ein theoretisches ethisches Dilemma, und aus den Schwierigkeiten, die dessen Lösung bietet, gewinnt man Aufschlüsse über unser Gefühl für Richtig und Falsch.
Hauser indes geht über die Gedankenexperimente der Philosophen hinaus und führt statistische Umfragen und psychologische Experimente durch, stellt Fragebögen ins Internet und erforscht damit zum Beispiel das ethische Empfinden realer Menschen. Aus heutiger Sicht ist dabei vor allem interessant, dass die meisten Menschen angesichts ethischer Zwickmühlen zu den gleichen Entscheidungen gelangen, wobei ihre Einigkeit über die Entscheidungen selbst weit stärker ist als ihre Fähigkeit, die Gründe dafür zu benennen. Genau das würde man erwarten, wenn in unserem Gehirn ein Moralgefühl ebenso eingebaut ist wie der Sexualinstinkt, die Höhenangst oder, wie Hauser selbst gern sagt, die Sprachfähigkeit (die sich in den Details von einem Kulturkreis zum anderen unterscheidet, während die grundlegende Tiefenstruktur der Grammatik überall gleich ist). Wie wir noch genauer erfahren werden, sind die Antworten der Menschen auf solche ethischen Fragen offenbar
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