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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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weitgehend unabhängig von ihren religiösen Überzeugungen oder von deren Fehlen. Die Grundaussage von Hausers Buch lautet in seinen eigenen Worten: »Die Triebkraft unserer ethischen Urteile ist eine allgemeine ethische Grammatik, eine Fähigkeit des Geistes, die sich in Jahrmillionen der Evolution dahingehend entwickelt hat, dass sie Prinzipien zum Aufbau eines ganzen Spektrums ethischer Systeme umfasst. Wie die Regeln der Sprache, so fliegen auch die Gesetzmäßigkeiten, die unsere ethische Grammatik bilden, unter dem Radar unseres Bewusstseins hindurch.«
    Die von Hauser erdachten ethischen Zwickmühlen sind häufig Variationen des gleichen Themas: Ein herrenloser Waggon ist auf einer Eisenbahnstrecke unterwegs und bringt mehrere Menschen in Lebensgefahr. In der einfachsten Version der Geschichte steht eine einzelne Person namens Denise im Stellwerk und kann den Waggon auf ein Nebengleis umleiten, um so die fünf Menschen auf dem Hauptgleis zu retten. Leider steht aber auch auf dem Nebengleis ein Mensch. Da es aber nur einer ist, stimmen die meisten Befragten darin überein, dass es ethisch zulässig oder sogar geboten ist, dass Denise die Weiche umlegt und durch die Tötung eines Menschen die fünf anderen rettet. Hypothetische Möglichkeiten, etwa dass es sich bei dem einen Menschen auf dem Nebengleis um ein Genie wie Beethoven oder um einen engen Freund handelt, lassen wir hier einmal außer Acht.
    Entwickelt man das Gedankenexperiment weiter, so ergibt sich eine Reihe von immer schwierigeren ethischen Dilemmata. Was ist, wenn man den Waggon anhalten kann, indem man von einer Brücke einen schweren Gegenstand vor ihm auf die Schienen fallen lässt? Das ist einfach: Natürlich müssen wir das Gewicht hinunterwerfen. Aber wie sieht es aus, wenn es sich bei dem einzig verfügbaren schweren Gegenstand um einen dicken Mann handelt, der auf der Brücke sitzt und den Sonnenuntergang genießt? Hier sind fast alle übereinstimmend der Ansicht, dass es ethisch unzulässig wäre, den Mann von der Brücke zu werfen, obwohl es sich in einem gewissen Sinn um die gleiche Zwangslage handelt, in der sich auch Denise befindet, wenn ihre Weichenstellung einen Menschen tötet und fünf andere rettet. Die meisten Menschen haben intuitiv den starken Eindruck, dass zwischen den beiden Situationen ein entscheidender Unterschied besteht, doch worin dieser Unterschied besteht, können wir unter Umständen nicht artikulieren.
    Die Vorstellung, den dicken Mann von der Brücke zu werfen, erinnert an ein anderes von Hauser konstruiertes Dilemma. In einem Krankenhaus liegen fünf Patienten im Sterben; bei jedem versagt ein anderes Organ. Alle könnte man retten, wenn jeweils ein Spender für das kranke Organ zur Verfügung stünde, aber das ist nicht der Fall. Da fällt dem Chirurgen auf, dass im Wartezimmer ein gesunder Mann sitzt, bei dem alle fünf Organe gut funktionieren und sich für die Transplantation eignen würden. In diesem Fall würde es fast niemand für ethisch vertretbar halten, den einen Menschen zu töten und damit die fünf anderen zu retten.
    Wie bei dem dicken Mann auf der Brücke, so haben auch hier die meisten Menschen die gleiche Intuition: Man sollte einen Unschuldigen, der zufällig in der Nähe ist, nicht ohne seine Zustimmung in eine schlimme Situation hineinziehen. Eine berühmte Formulierung für das Prinzip stammt von Immanuel Kant: Ein vernunftbegabtes Wesen sollte niemals gegen seinen Willen als Mittel zu einem Zweck benutzt werden, selbst dann nicht, wenn dieser Zweck darin besteht, anderen zu helfen. Das ist offenbar der entscheidende Unterschied zwischen der Situation mit dem dicken Mann auf der Brücke (oder dem im Wartezimmer) und dem Mann auf Denises Nebengleis: Der dicke Mann wird gezielt als Mittel benutzt, um den führerlosen Waggon zum Stehen zu bringen. Dies verletzt eindeutig das Kant’sche Prinzip. Die Person auf dem Nebengleis wird nicht benutzt, um das Leben der fünf anderen auf dem Hauptgleis zu retten. Hier ist das Nebengleis das Mittel, und der Mensch hat einfach nur Pech, dass er gerade dort steht. Aber warum stellt uns eine solche selbst gezogene Unterscheidung zufrieden? Für Kant war es ein moralisches Absolutum. Für Hauser wurde es uns von der Evolution eingepflanzt.
    Die hypothetischen Situationen rund um den führerlosen Waggon wurden immer raffinierter, und entsprechend quälender wurden die ethischen Dilemmata. Hauser stellt zwei hypothetische Menschen namens Ned und Oscar mit

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