Der Gotteswahn
verwandt waren, trafen sich dieselben Individuen während ihres ganzen Lebens immer wieder – ideale Voraussetzungen für die Evolution des Altruismus auf Gegenseitigkeit. Ebenso konnte man sich unter diesen Bedingungen hervorragend einen Ruf des Altruismus erwerben, und die gleichen Bedingungen eigneten sich dafür, Großzügigkeit unübersehbar zur Schau zu stellen. Auf allen vier Wegen wurde die genetische Veranlagung zum Altruismus bei den Frühmenschen begünstigt. Man erkennt ohne weiteres, warum unsere Vorfahren zu den Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe freundlich waren, während sie sich gegenüber anderen Gruppen abweisend bis hin zur Fremdenfeindlichkeit verhielten. Heute jedoch leben die meisten Menschen in Städten, wo sie nicht ihre Verwandten um sich herum haben und jeden Tag mit Personen zusammentreffen, die sie nie wieder sehen werden; warum sind wir dennoch auch heute gut zueinander, und das manchmal sogar zu Menschen, von denen man meinen könnte, dass sie zu einer ganz anderen Gruppe gehören?
Es ist wichtig, dass man sich keine falschen Vorstellungen von der Reichweite der natürlichen Selektion macht. Diese Selektion begünstigt nicht die Evolution eines kognitiven Bewusstseins dafür, was gut für unsere Gene ist. Ein solches Bewusstsein konnte erst im 20. Jahrhundert die kognitive Ebene erreichen, und auch heute ist das umfassende Wissen darüber auf eine kleine Gruppe spezialisierter Wissenschaftler beschränkt. Die natürliche Selektion begünstigt Faustregeln, die in der Praxis den Genen nützen, von denen sie erzeugt wurden. Aber es gehört zum Wesen von Faustregeln, dass sie manchmal nach hinten losgehen. Im Gehirn eines Vogels sorgt die Regel »Kümmere dich um die kleinen quiekenden Dinger in deinem Nest und lass Futter in ihre roten aufgesperrten Schnäbel fallen« normalerweise für die Erhaltung der Gene, die diese Regel hervorgebracht haben, denn bei den quiekenden Dingern mit den offenen Schnäbeln im Nest eines erwachsenen Vogels handelt es sich in den meisten Fällen um dessen Nachkommen. Die Regel wirkt sich aber schädlich aus, wenn ein anderer Jungvogel auf irgendeinem Weg in das Nest gelangt – ein Phänomen, das die Kuckucke zu ihren Gunsten ausnutzen. Wäre es denkbar, dass unser Drang zur Nächstenliebe ebenfalls eine solche Fehlfunktion ist wie bei dem Teichrohrsänger, dessen Elterninstinkt in die Irre geht, wenn der Vogel sich für einen kleinen Kuckuck abrackert? Eine noch genauere Analogie ist der Drang der Menschen, ein Kind zu adoptieren. Ich muss aber sofort hinzufügen, dass ich den Begriff »Fehlfunktion« hier nur in einem streng darwinistischen Sinn gebrauche. Er beinhaltet keinerlei Abwertung.
Meine Idee, es könne sich um einen »Fehler« oder ein »Nebenprodukt« handeln, sieht folgendermaßen aus: In alter Zeit, als wir wie Paviane in kleinen, stabilen Gruppen lebten, programmierte die natürliche Selektion in unser Gehirn einen Drang zum Altruismus ein; es war ein Trieb wie der Sexualtrieb, der Fresstrieb, die Fremdenfeindlichkeit und so weiter. Ein intelligentes Paar kann Darwin lesen und weiß dann, dass das Bedürfnis nach Sexualität seine Ursache letztlich in der Fortpflanzung hat. Beide wissen, dass die Frau kein Kind bekommen kann, weil sie die Pille nimmt. Dennoch stellen sie fest, dass ihr Sexualtrieb sich durch dieses Wissen keineswegs vermindert. Sexuelle Bedürfnisse sind sexuelle Bedürfnisse, und in der Psyche des Einzelnen sind sie unabhängig von dem darwinistischen Druck, der letztlich ihre Triebkraft war. Es ist ein starker Trieb, der losgelöst von seiner letzten Begründung existiert.
Nach meiner Vermutung gilt das Gleiche auch für unseren Drang, freundlich zu sein – unseren Hang zu Altruismus, Großzügigkeit, Einfühlungsvermögen und Mitleid. In alter Zeit hatten wir die Gelegenheit zum Altruismus nur gegenüber unseren Verwandten und denen, die es uns potenziell vergelten konnten. Heute existiert diese Einschränkung nicht mehr, aber die Faustregel ist immer noch da. Warum sollte es sie nicht mehr geben? Es ist genau wie beim Sexualtrieb. Wenn wir einen unglücklichen Menschen weinen sehen, müssen wir einfach Mitleid empfinden (auch wenn dieser Mensch nicht mit uns verwandt ist und uns unsere Hilfe nicht vergelten kann), ganz ähnlich wie wir uns sexuell zu einem Angehörigen des anderen Geschlechts hingezogen fühlen (auch wenn diese Person vielleicht unfruchtbar oder aus anderen Gründen nicht zur Fortpflanzung in der Lage
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