Der Gotteswahn
dem Motto »Wehret den Anfängen« kann man als Methode interpretieren, mit der Konsequentialisten den Absolutismus durch die Hintertür wieder einführen. Aber die religiösen Abtreibungsgegner halten sich mit der schiefen Bahn gar nicht erst auf. Für sie ist die Sache viel einfacher. Ein Embryo ist ein »Baby«, ihn zu töten ist Mord, fertig. Ende der Diskussion. Aus diesem absolutistischen Standpunkt ergeben sich viele Folgerungen. Zunächst einmal muss die Forschung mit embryonalen Stammzellen trotz ihres großen Potenzials für die medizinische Wissenschaft eingestellt werden, weil sie den Tod embryonaler Zellen einschließt. Wie widersprüchlich das ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die künstliche Befruchtung (In-Vitro-Fertilisation oder IVF) gesellschaftlich anerkannt ist, obwohl der weibliche Organismus dabei regelmäßig zur Produktion überzähliger Eizellen angeregt wird, die man dann außerhalb des Körpers befruchtet. Dabei erzeugt man bis zu einem Dutzend befruchtete Eizellen; nur zwei oder drei davon werden in die Gebärmutter eingepflanzt, und dann rechnet man damit, dass eine oder möglicherweise auch zwei überleben. Bei der IVF werden befruchtete Eizellen in zwei Stadien getötet, und die Gesellschaft sieht darin im Allgemeinen kein Problem. Die künstliche Befruchtung ist seit fünfundzwanzig Jahren ein Standardverfahren, das viel Freude in das Leben kinderloser Paare bringen kann.
Aber religiöse Absolutisten haben auch mit der künstlichen Befruchtung ihre Probleme. Eine bizarre Meldung erschien am 3. Juni 2005 im Guardian unter der Überschrift »Christliche Paare folgen einem Aufruf zur Rettung übrig gebliebener Embryonen nach IVF«. Der Bericht handelte von einer Organisation namens »Snowflakes« [»Schneeflocken«], die es sich zum Ziel gesetzt hat, die in Befruchtungskliniken übrig gebliebenen Embryonen zu »retten«. »Nach unserer festen Überzeugung hat der Herr uns aufgerufen, diesen Embryonen – diesen Kindern – eine Chance zum Leben zu geben«, sagte eine Frau aus dem US-Bundesstaat Washington, deren viertes Kind aus der »unerwarteten Verbindung zwischen konservativen Christen und der Welt der Reagenzglasbabys« hervorgegangen war. Ihr Ehemann hatte sich wegen dieser Verbindung Sorgen gemacht und einen Kirchenältesten befragt; der hatte ihm den Rat gegeben: »Wenn Sie die Sklaven befreien wollen, müssen Sie manchmal ein Abkommen mit dem Sklavenhändler schließen.« Ich frage mich, was solche Leute sagen würden, wenn sie wüssten, dass die Mehrzahl aller Embryonen ohnehin ganz von selbst kurz nach der Befruchtung als Fehlgeburt abgestoßen wird. Vermutlich sieht man darin am besten eine Art natürliche »Qualitätskontrolle«.
Religiöse Köpfe eines bestimmten Typs erkennen nicht den moralischen Unterschied zwischen der Tötung eines mikroskopisch kleinen Zellhaufens und der Tötung eines ausgewachsenen Arztes. Ich habe bereits Randall Terry und die »Operation Rescue« erwähnt. Mark Juergensmeyer zeigt in seinem erschreckenden Buch Terror in the Mind of God (Terror im Namen Gottes) ein Foto des Reverend Michael Bray und seines Freundes, des Reverend Paul Hill. Die beiden tragen ein Transparent mit der Aufschrift »Is it wrong to stop the murder of innocent babies?« [»Ist es falsch, den Mord an unschuldigen Babys zu verhindern?«] Beide sehen wie nette, adrette junge Männer aus: gewinnendes Lächeln, leger-elegante Kleidung, das genaue Gegenteil von starr blickenden Fanatikern. Aber die beiden und ihre Freunde von der Army of God (AOG) haben es zu ihrer Hauptbeschäftigung gemacht, Abtreibungskliniken in Brand zu setzen, und sie machen keinen Hehl aus ihren Bestrebungen, Ärzte zu ermorden. Am 29. Juli 1994 nahm Paul Hill eine Schrotflinte und ermordete Dr. John Britton sowie dessen Leibwächter James Barrett vor Brittons Klinik in Pensacola (Florida). Anschließend stellte er sich der Polizei und erklärte, er habe den Arzt getötet, um für die Zukunft den Tod »unschuldiger Babys« zu verhindern.
Michael Bray stellt sich ausdrücklich hinter solche Aktionen und gibt sich dabei den Anstrich hoher moralischer Ziele. Dies erlebte ich selbst, als ich ihn für meine Fernsehdokumentation über Religion in einem öffentlichen Park in Colorado Springs interviewte. [48] Bevor ich auf die Abtreibungsfrage zu sprechen kam, wollte ich mir mit einigen vorbereitenden Fragen ein Bild von Brays bibelgestützter Moral machen. Ich wies darauf hin, dass das biblische
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