Der Gotteswahn
Parteisoldaten Gilbert Keith Chesterton und Hilaire Belloc. Baring fasste sie in die Form eines erfundenen Dialogs zwischen zwei Ärzten:
»Ich würde gern Ihre Meinung im Zusammenhang mit einem Schwangerschaftsabbruch hören. Der Vater hatte Syphilis, die Mutter Tuberkulose. Von den vier bereits vorhandenen Kindern war das erste blind, das zweite starb frühzeitig, das dritte war taub und schwachsinnig, das vierte hatte ebenfalls Tuberkulose. Was hätten Sie getan?«
»Ich hätte die Schwangerschaft abgebrochen.«
»Dann hätten Sie Beethoven ermordet.«
Das Internet ist geradezu verseucht mit so genannten Lebensschützerseiten, die diese lächerliche Geschichte wiedergeben und ganz nebenbei die Tatsachen mit böswilliger Leichtfertigkeit verfälschen. Eine andere Version lautet: »Angenommen, Sie kennen eine schwangere Frau, die schon acht Kinder hat. Drei davon sind taub, zwei sind blind, eines ist geistig behindert (alles weil sie Syphilis hat); würden Sie ihr eine Abtreibung empfehlen? Damit hätten Sie Beethoven getötet.« 144 Diese Form der Legende versetzt den großen Komponisten von der fünften an die neunte Stelle der Geschwisterreihe, steigert die Zahl der taub geborenen Kinder auf drei und die der blinden auf zwei und schreibt die Syphilis nicht dem Vater, sondern der Mutter zu.
Als ich nach verschiedenen Versionen der Geschichte suchte, fand ich insgesamt 43 Websites; die meisten davon schreiben sie nicht Baring zu, sondern einem gewissen Professor L.R. Agnew von der medizinischen Fakultät der University of California in Los Angeles; dieser stellte angeblich seine Studenten vor das Dilemma und sagte dann: »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gerade Beethoven ermordet.« Wir können mit L.R. Agnew nachsichtig sein und seine Existenz anzweifeln, aber es ist schon verblüffend, wie solche modernen Legenden sich verbreiten. Ob die Geschichte ihren Ursprung tatsächlich bei Baring hat oder noch früher erfunden wurde, konnte ich nicht herausfinden.
Aber erfunden ist sie mit Sicherheit. Sie ist von vorn bis hinten falsch. In Wirklichkeit war Ludwig van Beethoven weder das fünfte noch das neunte Kind seiner Eltern. Er war der Älteste – oder streng genommen der Zweite, aber der ältere Bruder starb, wie es damals häufig vorkam, bereits im Säuglingsalter und war nach heutiger Kenntnis weder blind noch taub oder geistig behindert. Nichts deutet darauf hin, dass ein Elternteil Syphilis hatte, die Mutter starb allerdings am Ende tatsächlich an Tuberkulose. Auch das war damals nichts Ungewöhnliches.
Das Ganze ist tatsächlich eine moderne Legende, eine Fälschung, die gezielt verbreitet wird, weil bestimmte Leute ein ureigenes Interesse daran haben. Allerdings ist die Tatsache, dass es sich um eine Lüge handelt, ohnehin bedeutungslos. Selbst wenn sie wahr wäre, könnte man daraus keine stichhaltige Argumentation ableiten. Peter und Jean Medawar brauchten den Wahrheitsgehalt der Geschichte überhaupt nicht anzuzweifeln, um auf den Schwachpunkt der Argumentation aufmerksam zu machen: »Hinter diesem heimtückischen kleinen Argument steht eine atemberaubend falsche Überlegung. Wenn man nicht gerade unterstellen will, dass zwischen einer tuberkulösen Mutter, einem syphilitischen Vater und der Geburt eines musikalischen Genies ein Kausalzusammenhang besteht, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Welt ein Beethoven verloren geht, bei einer Abtreibung nicht größer als bei keuscher Abstinenz vom Geschlechtsverkehr.« 145 Dieser lakonisch-spöttischen Zurückweisung durch die Medawars ist nichts hinzuzufügen. (Allenfalls eine der »ungewöhnlichen Geschichten« von Roald Dahl: Eine ebenso zufällige Entscheidung aus dem Jahr 1888, keine Abtreibung vorzunehmen, bescherte uns Adolf Hitler.) Um den entscheidenden Punkt zu verstehen, braucht man allerdings ein Quäntchen Intelligenz – vielleicht auch die Freiheit von einer bestimmten Form religiöser Erziehung. Von den 43 »Lebensschützer«-Websites, die eine Google-Suche an dem Tag, als dieser Abschnitt entstand, zu Tage förderte, erkannte keine einzige die Unlogik der Argumentation. Alle (es handelte sich übrigens ausnahmslos um religiöse Websites) fielen mit Pauken und Trompeten auf den Trugschluss herein. Eine nannte sogar Medawar (dort Medavvar geschrieben) als Quelle. Diese Leute waren erpicht darauf, eine zu ihrem Glauben passende fehlerhafte Schlussfolgerung zu glauben, und deshalb merkten sie nicht einmal, dass die Medawars das Argument
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