Der Gotteswahn
für gefährliche Psychopathen, sondern für gute, moralische Menschen, die sich von Gott leiten lassen. Nach meiner Überzeugung war Paul Hill kein Geistesgestörter. Er war nur sehr religiös. Gefährlich, ja, aber kein Psychopath. Gefährlich religiös. Aus der Sicht seiner religiösen Überzeugungen war es völlig richtig und moralisch, Dr. Britton zu erschießen. Das Falsche an Hill war sein religiöser Glaube als solcher. Auch als ich Michael Bray persönlich kennenlernte, hatte ich nicht den Eindruck, einem Psychopathen gegenüberzustehen. Eigentlich fand ich ihn sogar recht sympathisch. Er wirkte auf mich wie ein ehrlicher, aufrichtiger Mensch, wortgewandt und nachdenklich. Nur war sein Geist leider in giftigem religiösem Unsinn gefangen.
Entschiedene Abtreibungsgegner sind fast immer tief religiös. Ehrliche Abtreibungsbefürworter richten sich unabhängig davon, ob sie persönlich religiös sind oder nicht, meist nach einer nicht religiösen, konsequentialistischen Ethik und stellen dabei vielleicht die gleiche Frage wie Jeremy Bentham: »Können sie leiden ?« Für Paul Hill und Michael Bray bestand zwischen der Tötung eines Arztes und der Tötung eines Embryos ethisch kein Unterschied, nur war der Embryo für sie ein unschuldiges »Baby«. Der Konsequentialist erkennt alle Unterschiede in der Welt. Ein Embryo im Frühstadium ähnelt in Empfindungsvermögen und Aussehen einer Kaulquappe. Der Arzt ist ein ausgewachsener, bewusster Mensch mit Hoffnungen, Liebe, Zielen, Ängsten, einer gewaltigen Menge an menschlichem Wissen und der Fähigkeit zu tiefen Gefühlen; er hinterlässt vermutlich eine am Boden zerstörte Witwe, verwaiste Kinder und vielleicht auch betagte Eltern, die ihn abgöttisch geliebt haben.
Paul Hill brachte echtes, tiefes, lang anhaltendes Leid über Menschen, deren Nervensystem zum Leiden in der Lage war. Sein Opfer, der Arzt, hatte nichts dergleichen getan. Ein Embryo hat im Frühstadium kein Nervensystem und leidet höchstwahrscheinlich nicht. Und wenn der Embryo bei einem späten Schwangerschaftsabbruch ein Nervensystem hat und tatsächlich leidet – was, wie jedes Leiden, zu beklagen ist –, dann liegt es nicht daran, dass es sich um einen menschlichen Embryo handelt. Es gibt ganz allgemein keinen Grund zu der Annahme, ein menschlicher Embryo würde zu irgendeinem Zeitpunkt mehr leiden als ein Rinder- oder Schafsembryo im gleichen Entwicklungsstadium. Und es spricht alles dafür, dass sämtliche Embryonen, ob menschlich oder nicht, weit weniger leiden als ausgewachsene Kühe und Schafe im Schlachthof, insbesondere wenn es sich um ein rituelles Schlachthaus handelt, wo die Tiere aus religiösen Gründen bei vollem Bewusstsein sein müssen, wenn man ihnen zeremoniell die Kehle durchschneidet.
Leiden zu messen ist schwierig, 143 und in den Einzelheiten kann man sicher unterschiedlicher Meinung sein. Das ist aber ohne Bedeutung für meine Hauptaussage über den Unterschied zwischen konsequentialistischer und religiös-absoluter Ethik. [49] Der einen Denkschule geht es darum, ob Embryonen leiden können; die andere fragt, ob Embryonen Menschen sind. Religiöse Ethiker diskutieren häufig über Fragen wie die, wann ein Embryo zu einer Person wird, also zu einem menschlichen Wesen. Säkulare Ethiker dagegen fragen eher: »Ganz gleich, ob es ein Mensch ist (was bedeutet das bei einem kleinen Zellhaufen überhaupt?) – von welchem Entwicklungsstadium an ist ein Embryo jeder beliebigen Tierart in der Lage, zu leiden ?«
Der große Beethoven-Trugschluss
Der nächste Zug der Abtreibungsgegner im verbalen Schachspiel sieht ungefähr folgendermaßen aus: Es geht nicht darum, ob ein menschlicher Embryo heute leiden kann oder nicht. Entscheidend ist sein Potenzial. Durch die Abtreibung beraubt man ihn der Gelegenheit, in Zukunft zu menschlichem Leben zu werden. Allerdings kommt dieser Gedanke in einer rhetorischen Argumentation daher, die dermaßen dumm ist, dass nur dieser Umstand sie vom Vorwurf vorsätzlicher Unehrlichkeit befreien kann. Ich meine den großen Beethoven-Trugschluss, den es in mehreren Versionen gibt. Die folgende schreiben Peter und Jean Medawar [50] in ihrem Buch The Life Science (»Die Wissenschaft vom Leben«) dem britischen Parlamentsabgeordneten Norman St John (heute Lord St John) zu, einem prominenten katholischen Laien. Der wiederum hatte sie von Maurice Baring (1874–1945), einem bekannten konvertierten Katholiken und engen Weggefährten der katholischen
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