Der Gotteswahn
Märtyrerpensionen zur Unterstützung erhielten. Im Gegenteil: In einigen Fällen mussten die Familien der Täter untertauchen. Einer der Männer machte bewusst seine schwangere Frau zur Witwe und seinen kleinen Sohn zum Waisen. Die Taten dieser jungen Männer kamen einer Katastrophe gleich, und zwar nicht nur für sie selbst und ihre Opfer, sondern auch für ihre Angehörigen und die gesamte muslimische Gemeinschaft in Großbritannien, die seither mit starken Widerständen zu kämpfen hat. Nur religiöser Glaube ist eine so starke Kraft, dass er ansonsten geistig gesunde, anständige Menschen zu einer derart vollständigen Verrücktheit motivieren kann. Wieder einmal traf Sam Harris mit seiner scharfsichtigen Unverblümtheit den Nagel auf den Kopf. Als Beispiel wählte er den Al-Qaida-Führer Osama bin Laden (der übrigens mit den Bombenanschlägen von London nichts zu tun hatte). Warum sollte jemand den Wunsch haben, das World Trade Center zu zerstören und alle darin befindlichen Menschen zu töten? Wenn wir bin Laden einfach als »böse« bezeichnen, entziehen wir uns unserer Verantwortung, auf eine so wichtige Frage eine Antwort zu finden.
Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand – und sei es nur, weil bin Laden selbst sie geduldig und bis zum Erbrechen immer wieder formuliert hat. Sie lautet: Männer wie bin Laden glauben tatsächlich , was sie sagen. Sie glauben, dass der Koran Wort für Wort wahr ist. Warum tauschten neunzehn gebildete Männer aus der Mittelschicht ihr Leben in dieser Welt gegen das Privileg, Tausende ihrer Mitmenschen zu töten? Weil sie glaubten, sie würden zum Lohn unmittelbar ins Paradies eingehen. Nur selten lässt sich das Verhalten von Menschen so umfassend und befriedigend erklären. Warum haben wir eine so starke Abneigung dagegen, diese Erklärung anzuerkennen? 148
Eine ähnliche Analyse lieferte die angesehene Journalistin Muriel Gray im Glasgow Herald vom 24. Juli 2005, diesmal im Zusammenhang mit den Bombenanschlägen von London:
Allen wird die Schuld zugeschoben, vom offenkundigen Schurken-Duo George W. Bush und Tony Blair bis zu den muslimischen »Gemeinschaften« und ihrer Untätigkeit. Aber nie war so klar wie jetzt, dass die Schuld nur an einer einzigen Stelle liegt und immer gelegen hat. Die Ursache von Elend, Chaos, Gewalt, Terror und Ignoranz ist natürlich die Religion selbst. Dass man eine solch offenkundige Erkenntnis ausdrücklich benennen muss, mag lächerlich erscheinen, aber in Wirklichkeit gelingt es der Regierung und den Medien ziemlich gut, so zu tun, als wäre es nicht so.
Unsere westlichen Politiker vermeiden es, das »R-Wort« (Religion) in den Mund zu nehmen. Stattdessen sprechen sie vom »Krieg gegen den Terror«, als sei Terror eine Art Geist oder Kraft mit eigenem Willen und Verstand. Oder sie behaupten, Terroristen seien ausschließlich vom »Bösen« motiviert. Aber die Terroristen sind nicht vom Bösen motiviert. So fehlgeleitet sie uns auch erscheinen mögen, ihre Motive sind die gleichen wie bei den Christen, die Abtreibungsärzte ermorden: Sie lassen sich von einer vermeintlichen Rechtschaffenheit leiten und befolgen genau das, was ihre Religion ihnen vorschreibt. Sie sind keine Psychotiker, sondern religiöse Idealisten, die aus ihrer eigenen Sicht rational handeln. Ihre Taten halten sie für etwas Gutes, und zwar nicht aus irgendeiner verzerrten persönlichen Verschrobenheit heraus und auch nicht, weil sie vom Satan besessen wären, sondern weil sie von klein auf zu einem umfassenden, unhinterfragten Glauben erzogen wurden.
Sam Harris zitiert einen gescheiterten palästinensischen Selbstmordbomber, der erklärte, aus welchen Motiven er Israelis ermorden wollte: »Aus Liebe zum Märtyrertum […]. Ich will keine Rache für irgendetwas. Ich wollte einfach ein Märtyrer sein.« Am 19. November 2001 erschien in der Zeitschrift The New Yorker ein Interview, das Nasra Hassan mit einem anderen gescheiterten Selbstmordattentäter geführt hatte, einem höflichen jungen Palästinenser von 27 Jahren, der unter dem Namen »S« bekannt ist. Dieser spricht mit einem derart poetischen Wortreichtum von den gleichen Verlockungen des Paradieses, die auch von gemäßigten Religionsführern und -lehrern gepredigt werden, dass ich es für lohnend halte, eine Passage daraus wiederzugeben:
»Worin liegt der Reiz des Märtyrertums?«, fragte ich.
»Die Macht des Geistes zieht uns empor, während die Macht der materiellen Dinge uns herabzieht«,
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