Der Gotteswahn
eigentlich gewählt?) erklären reihenweise, der Extremismus sei eine Perversion des »wahren« Glaubens. Aber wie kann es eine Perversion des Glaubens geben, wenn der Glaube selbst, dem ja die objektive Rechtfertigung fehlt, gar keine handfesten Maßstäbe besitzt, die man pervertieren könnte?
Einen ganz ähnlichen Standpunkt vertrat Ibn Warraq vor einigen Jahren in seinem ausgezeichneten Buch Why I Am Not a Muslim (Warum ich kein Muslim bin) aus der Sicht eines hochgebildeten Islamgelehrten. Eine gute Alternative für den Titel von Warraqs Buch wäre allerdings Der Mythos vom gemäßigten Islam ; diese Überschrift trug ein Artikel in der Londoner Zeitschrift Spectator vom 30. Juli 2005, verfasst von Patrick Sookhdeo, dem Direktor des Instituts für islamische und christliche Studien. »Heute führt die große Mehrheit der Muslime ihr Leben, ohne auf Gewalt zurückzugreifen, denn der Koran ist ein Gemisch, aus dem man nach Belieben auswählen kann. Wer Frieden wünscht, findet friedliche Verse. Wer Krieg will, findet kriegerische Verse.«
Im weiteren Verlauf erläutert Sookhdeo, wie die islamischen Gelehrten vorgegangen sind, um mit den vielen Widersprüchen im Koran fertigzuwerden: Sie entwickelten das Prinzip der Aufhebung, wonach spätere Texte den Vorrang gegenüber früheren haben. Leider sind aber die meisten friedlichen Passagen des Korans ziemlich früh entstanden, als Mohammed noch in Mekka lebte. Die kriegerischen Verse verfasste er später, als er nach Medina geflüchtet war. Das Ergebnis:
Der ständig wiederholte Slogan »Islam ist Frieden« ist seit mindestens 1400 Jahren überholt. Nur 13 Jahre lang war der Islam Frieden und nichts als Frieden. […] Für die heutigen radikalen Muslime – und auch für die mittelalterlichen Juristen, die den klassischen Islam entwickelten – kommt die Aussage »Islam ist Krieg« der Wahrheit näher. Al-Ghurabaa, eine der radikalsten islamischen Gruppen Großbritanniens, verkündete nach den Bombenanschlägen von London: »Jeder Muslim, der leugnet, dass Terror zum Islam gehört, ist ein Kafir.« Ein Kafir ist ein Ungläubiger (d.h. ein Nichtmuslim), und der Begriff stellt eine schwere Beleidigung dar. […]
Wäre es denkbar, dass die jungen Selbstmörder keineswegs an den Rändern der muslimischen Gesellschaft in Großbritannien standen und sich auch nicht an einer exzentrischen, extremistischen Interpretation ihres Glaubens orientierten, sondern dass sie aus dem Kern der muslimischen Gemeinschaft stammten und durch eine allgemein übliche Interpretation des Islam motiviert wurden?
Allgemeiner betrachtet (und das gilt für das Christentum nicht weniger als für den Islam) ist vor allem eines besonders heimtückisch: die Praxis, Kindern beizubringen, dass Glaube als solcher eine Tugend ist. Glaube ist genau deshalb bösartig, weil er keine Rechtfertigung braucht und keine Diskussion duldet. Wenn man Kindern beibringt, dass unhinterfragter Glaube eine Tugend ist – und wenn dann noch einige andere Faktoren hinzukommen, die nicht schwer zu verwirklichen sind –, schafft man in ihnen die Voraussetzung, um sie in zukünftigen Dschihads oder Kreuzzügen zu tödlichen Waffen zu machen.
Durch das Versprechen des Märtyrerparadieses vor der Angst geschützt, verdient der echte Gläubige in der Geschichte der Waffenentwicklung einen Ehrenplatz gleich neben Langbogen, Schlachtross, Panzer und Streubombe. Würde man Kindern beibringen, ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen und zu durchdenken, statt sie die überlegene Tugend eines Glaubens ohne Fragen zu lehren, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie nicht zu Selbstmordattentätern würden. Selbstmordattentäter begehen ihre Taten, weil sie wirklich das glauben, was ihnen in ihren Religionsschulen beigebracht wurde: dass die Pflichterfüllung für Gott gegenüber allem anderen Priorität hat und dass das Märtyrertum im Dienste Gottes im Paradiesgarten belohnt wird.
Diese Lektion allerdings haben sie nicht unbedingt von extremistischen Fanatikern gelernt, sondern von anständigen, sanftmütigen, zur Mehrheit gehörenden Religionslehrern, in deren Koranschulen sie in Reih und Glied gesessen haben, um mit rhythmischem Auf und Ab der arglosen kleinen Köpfe jedes Wort aus dem heiligen Buch auswendig zu lernen wie schwachsinnige Papageien. Glaube kann sehr, sehr gefährlich sein, und ihn absichtlich in den verletzlichen Geist eines arglosen Kinds einzupflanzen ist ein schwerer Fehler.
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