Der Gotteswahn
Der Kindheit und ihrer Verletzung durch die Religion wenden wir uns nun im nächsten Kapitel zu.
9. Kindheit, Kindesmisshandlung und wie man der Religion entkommt
In jedem Dorf gibt es eine Fackel, den Lehrer, und jemanden, der dieses Licht löscht, den Pfarrer.
Victor Hugo
An den Anfang dieses Kapitels möchte ich eine Anekdote aus dem Italien des 19. Jahrhunderts stellen. Damit will ich nicht sagen, dass etwas Ähnliches wie diese abscheuliche Geschichte sich heute ereignen könnte. Aber die geistige Haltung, die sich darin verrät, ist leider nur allzu aktuell, auch wenn das für die praktischen Details nicht gilt. Die menschliche Tragödie aus dem 19. Jahrhundert wirft ein erbarmungsloses Schlaglicht auf die heutigen religiösen Einstellungen gegenüber Kindern.
Im Jahr 1858 wurde der sechsjährige Edgardo Mortara, Sohn jüdischer Eltern aus Bologna, von der päpstlichen Polizei auf Anordnung der Inquisition verhaftet. Edgardo wurde mit Gewalt seiner weinenden Mutter und dem verzweifelten Vater weggenommen, nach Rom ins Haus der Katechumenen gebracht (eine Einrichtung zur Bekehrung von Juden und Muslimen) und dort als Katholik erzogen. Von gelegentlichen kurzen Besuchen unter strenger priesterlicher Aufsicht abgesehen, sahen seine Eltern ihn nie wieder. Ein ausführlicher Bericht über die Vorgänge findet sich in dem bemerkenswerten Buch The Kidnapping of Edgardo Mortara (Die Entführung des Edgardo Mortara: Ein Kind in der Gewalt des Vatikans) von David I. Kertzer.
Edgardos Geschichte war in Italien zu jener Zeit durchaus nichts Ungewöhnliches, und der Grund für solche Entführungen durch Geistliche war stets der Gleiche: Immer war das Kind zu irgendeinem früheren Zeitpunkt heimlich – meist von einem katholischen Kindermädchen – getauft worden, und später hatte die Inquisition von der Taufe erfahren. Ein zentraler Bestandteil der römisch-katholischen Lehre besagte: Ein Kind, das getauft wurde – und sei es auch noch so informell und heimlich –, ist ein für alle Mal Christ. Die Möglichkeit, dass ein solches »christliches Kind« bei seinen jüdischen Eltern blieb, kam in der geistigen Welt der katholischen Behörden nicht vor: Sie hielten trotz weltweiter Empörung standhaft und mit völliger Aufrichtigkeit an ihrem bizarren, grausamen Standpunkt fest. Die allgemeine Empörung wurde übrigens von der katholischen Zeitung Civiltà Cattolica auf die internationale Macht reicher Juden zurückgeführt – das klingt doch irgendwie bekannt, oder?
Die Geschichte von Edgardo Mortara erregte besonders großes Aufsehen, aber ansonsten war sie ganz und gar typisch für viele andere. Edgardo war anfangs von Anna Morisi versorgt worden, einem katholischen Mädchen von vierzehn Jahren, das weder lesen noch schreiben konnte. Einmal wurde er krank, und sie hatte entsetzliche Angst, der Kleine könnte sterben. Da sie in dem lähmenden Glauben aufgewachsen war, ein ungetauftes Kind müsse ewig in der Hölle schmoren, bat sie einen katholischen Nachbarn um Rat, und der erklärte ihr, wie die Taufe zu vollziehen war. Sie ging wieder ins Haus, spritzte ein wenig Wasser aus einem Eimer auf den Kopf des kleinen Edgardo und sagte: »Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Das war alles. Und von diesem Augenblick an war Edgardo, juristisch betrachtet, Christ. Als die Priester der Inquisition Jahre später von dem Vorfall erfuhren, handelten sie entschieden und schnell; auf die bedauerlichen Folgen ihres Tuns verschwendeten sie keinen Gedanken.
Was angesichts der gewaltigen Folgen, die der Ritus für eine ganze Großfamilie haben kann, wirklich erstaunlich ist: Die katholische Kirche erlaubte (und erlaubt noch heute), dass jeder Mensch jeden anderen tauft. Der Täufer muss kein Geistlicher sein. Weder das Kind noch die Eltern noch sonst irgendjemand muss mit der Taufe einverstanden sein. Nichts muss unterschrieben werden. Niemand muss offiziell Zeuge sein. Erforderlich sind nur ein Spritzer Wasser, ein paar Worte, ein hilfloses Kind und ein abergläubischer Babysitter, der eine religiöse Gehirnwäsche hinter sich hat. Eigentlich wird sogar nur Letzterer gebraucht, denn wenn man annimmt, dass das Kind noch klein ist und nichts bezeugen kann, erfährt es ja niemand. Eine amerikanische Kollegin, die katholisch erzogen wurde, schrieb mir Folgendes: »Wir haben früher unsere Puppen getauft. Ob wir auch unsere kleinen protestantischen Freunde tauften, weiß ich nicht
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