Der Gotteswahn
sagte er. »Wer zum Märtyrertum neigt, wird unempfindlich gegen die materielle Anziehung. Unser Planer fragte: Was passiert, wenn die Operation fehlschlägt?‹ Darauf antworteten wir: Wir werden in jedem Fall zum Propheten und seinen Jüngern kommen, Inshallah!‹«
»Wir trieben, schwammen in dem Gefühl, dass wir an der Schwelle zur Ewigkeit standen. Wir hatten keine Zweifel. Wir legten in Gegenwart Allahs einen Eid auf den Koran ab – das Gelübde, nicht wankelmütig zu werden. Dieses Dschihad-Gelübde heißt bayt al-ridwan nach dem Garten im Paradies, der den Propheten und Märtyrern vorbehalten ist. Ich weiß, dass es auch andere Wege zum Dschihad gibt, aber dieser ist süß – der süßeste. Alle Märtyreroperationen, die im Namen Allahs vollbracht werden, schmerzen weniger als ein Mückenstich.«
S zeigte mir ein Video, auf dem die letzte Planungsphase der Operation festgehalten war. In dem grobkörnigen Film sah ich, wie er und zwei andere junge Männer ein rituelles Frage- und Antwortspiel um die Ehre des Märtyrertums spielten. […]
Dann knieten der Planer und die jungen Männer nieder und legten die rechte Hand auf den Koran. Der Planer sagte: »Seid ihr bereit? Morgen werdet ihr im Paradies sein.« 149
Wäre ich an S’ Stelle gewesen, dann hätte es mich gereizt, den Planer zu fragen: »Nun ja, wenn das so ist, warum lässt du dann den Worten nicht Taten folgen und hältst selbst den Kopf hin? Warum übernimmst nicht du den Selbstmordauftrag und gehst auf der Überholspur ins Paradies ein?« Was für uns so schwer zu verstehen ist – und ich muss es noch einmal wiederholen, weil es so wichtig ist: Diese Leute glauben tatsächlich an das , was sie sagen. Die Lehre, die wir daraus ziehen können, lautet: Wir sollten die Religion selbst dafür verantwortlich machen und nicht einen religiösen Extremismus , als wäre dieser eine Art entsetzliche Perversion einer richtigen, anständigen Religion. Voltaire erkannte es schon vor langer Zeit: »Wer dich veranlassen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch veranlassen, Gräueltaten zu begehen.« Und Bertrand Russell schreibt: »Viele Menschen sterben lieber, als dass sie nachdenken. Sie tun es tatsächlich.«
Solange wir das Prinzip anerkennen, dass religiöser Glaube respektiert werden muss, einfach weil es religiöser Glaube ist, kann man auch den Respekt gegenüber dem Glauben eines Osama bin Laden oder der Selbstmordattentäter kaum ablegen. Die Alternative springt so ins Auge, dass man sie nicht sonderlich betonen muss: Man kann das Prinzip des automatischen Respekts für religiösen Glauben aufgeben. Das ist ein Grund, warum ich alles in meiner Macht Stehende tue, um die Menschen nicht nur vor so genanntem »extremistischem« Glauben zu warnen, sondern vor dem Glauben überhaupt. Die Lehren der »gemäßigten« Religion sind zwar selbst nicht extremistisch, sie öffnen aber dem Extremismus Tür und Tor.
Nun kann man natürlich sagen, dass der religiöse Glaube in dieser Hinsicht nichts Besonderes ist. Auch die patriotische Liebe zum Vaterland oder zur eigenen ethnischen Gruppe kann doch den Boden für ihre eigene Form des Extremismus bereiten, ist es nicht so? Ja, das sieht man an den japanischen Kamikazefliegern und den Tamilentigern in Sri Lanka. Aber der religiöse Glaube bringt rationale Berechnung besonders wirksam zum Schweigen und übertrifft darin meist alle anderen Motive. Nach meiner Vermutung liegt das vor allem an der einfachen, verführerischen Versprechung, dass der Tod nicht das Ende sei und dass auf Märtyrer ein besonders prächtiges Jenseits warte. Zum Teil hat es aber auch schlicht damit zu tun, dass der Glaube von seinem Wesen her kritische Fragen missbilligt.
Das Christentum lehrt ebenso nachdrücklich wie der Islam, dass unhinterfragter Glaube eine Tugend ist. Man braucht für das, was man glaubt, keine Begründung. Wenn jemand verkündet, dieses oder jenes gehöre zu seinem Glauben , ist die gesamte Gesellschaft – unabhängig davon, ob sie demselben Glauben angehört oder nicht – aufgrund einer tief verwurzelten Sitte dazu verpflichtet, dies ohne weitere Fragen zu »respektieren«; es wird respektiert, bis es seinen Ausdruck eines Tages in einem entsetzlichen Blutbad findet, beispielsweise in der Zerstörung des World Trade Center oder in den Bombenanschlägen von Madrid und London. Dann setzt auf einmal der große Chor der Distanzierer ein: Geistliche und »Führer von Gemeinschaften« (wer hat die
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