Der Gotteswahn
nur angeführt hatten, um es gnadenlos zu zerpflücken.
Wie die Medawars völlig zu Recht betonen, lautet die logische Schlussfolgerung aus dem Argument des »menschlichen Potenzials«: Jedes Mal, wenn wir eine Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr ungenutzt verstreichen lassen, verweigern wir potenziell einer menschlichen Seele das Existenzrecht. Jede Verweigerung eines Angebots zur Paarung ist nach der irrsinnigen Logik dieser »Lebensschützer« gleichbedeutend mit dem Mord an einem potenziellen Kind! Selbst Gegenwehr gegen eine Vergewaltigung könnte man als Mord an dem potenziellen Baby auffassen (nebenbei bemerkt, sprechen viele »Lebensschützer« einer Frau selbst nach einer brutalen Vergewaltigung das Recht auf eine Abtreibung ab). Wie daran sehr schnell deutlich wird, steht hinter dem »Beethoven-Argument« eine wahrhaft schlechte Logik. Am besten verkörpert sich seine surreale Dummheit in dem großartigen Lied »Every Sperm Is Sacred«, gesungen von Michael Palin und einem Chor von mehreren hundert Kindern in dem Monty-Python-Film The Meaning of Life (Der Sinn des Lebens) (wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte das unbedingt tun). Der große Beethoven-Trugschluss ist ein gutes Beispiel dafür, in welchen logischen Kuddelmuddel wir geraten, wenn unser Geist durch religiös motivierten Absolutismus vernebelt ist.
Man sollte auch bedenken, dass »Lebensschützer« eigentlich nicht »das Leben schützen«. Gemeint ist ausschließlich menschliches Leben. Dass man den Zellen der Spezies Homo sapiens einzigartige Sonderrechte einräumt, lässt sich mit der Tatsache der Evolution nur schwer vereinbaren. Zugegeben: Dies wird viele Abtreibungsgegner nicht beeindrucken, weil sie nicht begreifen, dass die Evolution eine Tatsache ist. Dennoch möchte ich die Argumentation für Abtreibungsgegner, die in wissenschaftlichen Dingen weniger unwissend sind, kurz zusammenfassen.
Der Zusammenhang mit der Evolution ist ganz einfach. Die Tatsache, dass es sich um Zellen eines menschlichen Embryos handelt, kann ihm keine absolut andersartige ethische Stellung verleihen. Das ist nicht möglich, weil wir in einer ununterbrochenen entwicklungsgeschichtlichen Beziehung zu den Schimpansen und in größerer Entfernung auch zu allen anderen biologischen Arten auf der Erde stehen. Nehmen wir beispielsweise an, eine Art, die eine Zwischenstellung einnimmt – beispielsweise Australopithecus afarensis – hätte durch einen Zufall überlebt und würde heute in einem abgelegenen Teil Afrikas entdeckt. Würden wir diese Lebewesen »zu den Menschen rechnen« oder nicht? Für einen Konsequentialisten wie mich verdient diese Frage keine Antwort, weil nichts davon abhängt. Es reicht, dass wir fasziniert und geehrt wären, wenn wir einer lebenden »Lucy« begegnen würden.
Der Absolutist dagegen muss die Frage beantworten: Nur dann kann er das ethische Prinzip anwenden, den Menschen eine einzigartige Sonderstellung zuzuweisen, einfach weil sie Menschen sind. Wenn es hart auf hart käme, müsste man wahrscheinlich ganz ähnlich wie im Südafrika der Apartheid besondere Gerichte einsetzen, die darüber entscheiden, ob ein Individuum »als Mensch durchgeht«.
Selbst wenn man für Australopithecus noch eine eindeutige Antwort geben könnte, muss es wegen der Kontinuität, die ein unausweichliches Merkmal der biologischen Evolution ist, irgendwo eine Zwischenform geben, die so dicht an der »Grenze« liegt, dass das ethische Prinzip verschwimmt und seine Absolutheit verliert. Besser sagt man: In der Evolution gibt es keine natürlichen Grenzlinien. Die Illusion einer solchen Grenze entsteht nur dadurch, dass die Zwischenformen ausgestorben sind. Natürlich kann man die Ansicht vertreten, dass Menschen stärker leiden können als andere Arten. Das könnte durchaus stimmen, und dann ist es legitim, den Menschen genau deshalb eine Sonderstellung einzuräumen. Dennoch zeigt die Kontinuität der Evolution, dass es keine absolute Abgrenzung gibt. Absolutistische ethische Unterscheidungen werden durch die Evolution hinfällig. Ein unbehagliches Bewusstsein für diese Tatsache dürfte wahrscheinlich sogar einer der wichtigsten Gründe dafür sein, warum Kreationisten die Evolution leugnen: Sie fürchten sich vor den vermeintlichen ethischen Konsequenzen. Damit haben sie zwar unrecht, aber ohnehin ist es ein seltsamer Gedanke, man könne Wahrheiten in der Realität auslöschen, indem man sich überlegt, was ethisch wünschenswert wäre.
Wie »Mäßigung«
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