Der Gotteswahn
mehr, aber es ist zweifellos geschehen und geschieht auch heute noch. Wir haben unsere Puppen zu kleinen Katholiken gemacht, haben sie mit in die Kirche genommen, ihnen die Heilige Kommunion gespendet, und so weiter. Man hat uns mit einer Gehirnwäsche schon frühzeitig zu guten katholischen Müttern gemacht.«
Wenn die Mädchen im 19. Jahrhundert auch nur entfernt meiner heutigen Briefschreiberin ähnlich waren, muss man sich eigentlich wundern, dass Fälle wie der von Edgardo Mortara nicht wesentlich häufiger vorkamen. Aber auch so gab es derartige Geschichten im Italien des 19. Jahrhunderts bedrückend oft, und damit stellt sich natürlich eine naheliegende Frage: Warum stellten die Juden in katholischen Ländern überhaupt christliche Dienerinnen ein, wenn das mit einem derartigen Risiko verbunden war? Warum achteten sie nicht genau darauf, dass auch ihre Hausangestellten Juden waren? Wiederum hat die Antwort nicht mit Vernunft, sondern ausschließlich mit Religion zu tun. Die Juden brauchten Diener, denen es ihre Religion nicht verbot, am Sabbat zu arbeiten. Bei einem jüdischen Hausmädchen konnte man sich zwar darauf verlassen, dass es das Kind nicht durch eine Taufe zum spirituellen Waisen machen würde, aber es durfte am Samstag auch weder ein Feuer anzünden noch das Haus putzen. Das war der Grund, warum jüdische Familien, die sich Dienstpersonal leisten konnten, in Bologna zu jener Zeit meistens Katholiken einstellten.
Im vorliegenden Buch habe ich mit Absicht darauf verzichtet, genauer auf die Gräueltaten der Kreuzritter, der conquistadores oder der spanischen Inquisition einzugehen. Grausame, böse Menschen gibt es in jedem Jahrhundert, und sie haben alle möglichen Überzeugungen. Aber diese Geschichte über die italienische Inquisition und ihre Einstellung zu Kindern macht besonders gut deutlich, wie ein religiöser Geist funktioniert und welche bösen Dinge gerade deshalb daraus erwachsen, weil er religiös ist. Zunächst ist da die bemerkenswerte Vorstellung, ein Spritzer Wasser und ein kurzer Zauberspruch könnten das Leben eines Kindes völlig verändern und seien höher einzustufen als die Einwilligung der Eltern, die Einwilligung des Kindes selbst, das Lebensglück des Kindes und sein psychisches Wohlbefinden – also höher als alles, was gesunder Menschenverstand und humane Gefühle für wichtig erachten würden. Kardinal Antonelli formulierte es zu jener Zeit in einem Brief an Lionel Rothschild, den ersten jüdischen Parlamentsabgeordneten in Großbritannien, nachdem dieser schriftlich gegen die Entführung des Kindes protestiert hatte. Der Kardinal erklärte, er habe keine Möglichkeit einzugreifen, und fügte dann hinzu: »Es mag hier angebracht sein, festzustellen, dass, wenn die Stimme der Natur auch stark ist, die heiligen Pflichten der Religion dennoch stärker sind.« Ja, hm, das sagt doch alles, oder?
Das Zweite ist die erstaunliche Tatsache, dass die Priester, Kardinäle und der Papst selbst offenbar tatsächlich überhaupt nicht begriffen, welche entsetzliche Tat sie an dem kleinen Edgardo Mortara begingen. Auch wenn es sich jedem vernünftigen Verständnis entzieht: Sie glaubten ganz ehrlich, dass sie ihm etwas Gutes taten, als sie ihn seinen Eltern wegnahmen und einer christlichen Erziehung zuführten. Sie fühlten sich verpflichtet, ihn zu schützen ! In den Vereinigten Staaten verteidigte eine katholische Zeitung den Standpunkt des Papstes im Fall Mortara; nach ihrer Ansicht war es undenkbar, dass eine christliche Regierung »ein christliches Kind einer Erziehung als Jude überlässt«, und sie berief sich auf die Religionsfreiheit als »die Freiheit eines Kindes, Christ zu sein und nicht zu einem Leben als Jude gezwungen zu werden. […] Dass der Heilige Vater das Kind schützt, ist angesichts des ganzen wilden Fanatismus und aller Bigotterie das größte moralische Schauspiel, das die Welt seit langer Zeit gesehen hat«.
Gab es jemals eine krassere Fehldeutung von Worten wie »zwingen«, »wild«, »Fanatismus« oder »Bigotterie«? Dennoch deutet alles darauf hin, dass die katholischen Vertreter vom Papst an abwärts ehrlich glaubten, sie täten das Richtige: Es war in ihren Augen moralisch richtig und richtig für das Wohlergehen des Kindes. So stark kann Religion (und zwar die »gemäßigte« Hauptströmung der Religion) Urteile verzerren und normalen menschlichen Anstand ins Gegenteil verkehren. Die Zeitung Il Cattolico zeigte sich ehrlich verblüfft, dass so viele
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