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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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nicht nachgedacht haben können? Dennoch ist genau das bis heute üblich, und es wird fast nie infrage gestellt. Es zu hinterfragen ist in diesem Kapitel mein wichtigstes Anliegen.

Körperliche und seelische Misshandlung

    Wenn man von Kindesmisshandlung durch Priester spricht, meint man damit heute stets den sexuellen Missbrauch. Deshalb fühle ich mich von vornherein verpflichtet, das ganze Thema des sexuellen Missbrauchs in den richtigen Rahmen zu stellen und aus dem Weg zu räumen. Wie viele andere bereits festgestellt haben, herrscht heutzutage im Zusammenhang mit der Pädophilie eine Hysterie, eine Vulgärpsychologie, die an die Hexenverbrennungen von Salem im Jahr 1692 erinnert. Im Juli 2000 organisierte News of the World , häufig trotz heftiger Konkurrenz als widerlichste Zeitung Großbritanniens bezeichnet, eine Kampagne unter dem Motto »name and shame«, die nur knapp davor zurückschreckte, selbsternannte Rächer zu unmittelbaren Gewalttaten gegen Pädophile aufzufordern. Von Eiferern, die den Unterschied zwischen einem Pädiater und einem Pädophilen nicht kannten, wurde das Haus eines Kinderarztes überfallen. 150 Die allgemeine Hysterie über Pädophile hat epidemische Ausmaße erreicht und macht vielen Eltern panische Angst. So haben heute die Hänschenkleins, Hänsels und Gretels die Freiheit zum Herumstreifen eingebüßt, die früher (als das tatsächliche Risiko sexueller Übergriffe im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung vermutlich nicht geringer war) zu den Freuden der Kindheit gehörte.
    Aus Fairness gegenüber News of the World darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Wellen der Leidenschaft zur Zeit der Kampagne tatsächlich aufgewühlt waren, weil es in Sussex einen grauenhaften, sexuell motivierten Mord an einem achtjährigen entführten Mädchen gegeben hatte. Dennoch ist es eindeutig ungerecht, an allen Pädophilen auf eine Art Rache zu nehmen, die nur für die winzige Minderheit der Mörder angemessen wäre. An allen drei Internaten, die ich besucht habe, waren Lehrer beschäftigt, deren Zuneigung zu kleinen Jungen eindeutig über die Grenzen des Anstandes hinausging. Das war tatsächlich zu verurteilen. Wären sie aber 50 Jahre später von Rächern oder Rechtsanwälten wie Kindesmörder verfolgt worden, hätte ich mich verpflichtet gefühlt, sie zu verteidigen, obwohl ich selbst in einem Fall das Opfer war (ein peinliches, ansonsten aber harmloses Erlebnis).
    Die katholische Kirche hat im Rückblick eine große Bürde an derartiger Schmach zu tragen. Ich mag die katholische Kirche aus allen möglichen Gründen nicht, aber noch weniger mag ich Ungerechtigkeit, und deshalb muss ich mich einfach fragen, ob diese eine Institution, insbesondere in Irland und den Vereinigten Staaten, im Zusammenhang mit diesem Thema nicht auf ungerechte Weise dämonisiert wurde. Meiner Meinung nach richtet sich der Widerwille der Öffentlichkeit nicht zuletzt gegen die Heuchelei von Priestern, die sich beruflich vorwiegend damit beschäftigen, Schuldgefühle wegen »Sünden« zu wecken. Hinzu kommt der Vertrauensmissbrauch durch eine Autoritätsperson, die zu verehren dem Kind von der Wiege an anerzogen wurde. Ein solcher verstärkter Widerwille sollte uns umso mehr dazu mahnen, nicht vorschnell zu urteilen. Wir sollten uns einfach bewusst sein, dass unser Geist über eine bemerkenswerte Fähigkeit verfügt, falsche Erinnerungen zusammenzubrauen, zumal wenn wir von skrupellosen Therapeuten und geldgierigen Anwälten noch dazu angestiftet werden. Mit großem Mut und trotz boshafter Lobbyarbeit konnte die Psychologin Elizabeth Loftus zeigen, wie leicht Menschen sich völlig falsche Erinnerungen ausdenken, die ihnen, wenn sie Opfer sind, allerdings ebenso real erscheinen wie echte Erlebnisse. 151 Weil dieser Sachverhalt unserer Intuition massiv widerspricht, lassen sich Geschworene nur allzu leicht von aufrichtigen, aber falschen Zeugenaussagen einwickeln.
    Speziell in Irland kennt man, auch ohne sexuellen Missbrauch, die legendäre Brutalität der Christian Brothers, die dort lange für die Erziehung eines beträchtlichen Teils der männlichen Bevölkerung verantwortlich waren. 152 Das Gleiche kann man über die häufig sadistisch grausamen Nonnen sagen, die in Irland viele Mädchenschulen leiteten. Die berüchtigten Magdalenen-Heime, die Peter Mullan zum Thema seines Films The Magdalene Sisters (Die unbarmherzigen Schwestern) machte, gab es noch bis 1996. Doch nach vier Jahrzehnten ist Schadenersatz für

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