Der Gotteswahn
Menschen nicht erkannten, welch großherzigen Gefallen die Kirche dem kleinen Edgardo Mortara getan hatte, als sie ihn vor seiner jüdischen Familie rettete:
Wer von uns auch nur den kleinsten ernsthaften Gedanken auf die Angelegenheit verwendet, vergleicht den Zustand eines Juden – ohne echte Kirche, ohne König und ohne Land, verstreut und immer ein Fremder, wo er auch lebt auf dem Antlitz der Erde, und darüber hinaus für immer mit dem hässlichen Makel des Christusmörders behaftet – […] und begreift dann sofort, welchen großen irdischen Vorteil der Papst dem kleinen Mortara verschafft hat.
Drittens fällt auf, mit welcher Überheblichkeit religiöse Menschen ohne jeden Beleg wissen , dass der Glaube ihrer Geburt der einzig wahre Glaube ist, während alle anderen nur Verirrungen oder schlichtweg falsch sind. Die angeführten Zitate machen diese Einstellung für die christliche Seite auf lebhafte Weise deutlich. Im Fall Mortara beide Seiten auf eine Stufe zu stellen wäre höchst ungerecht, aber man kann an dieser Stelle ebenso gut wie an jeder anderen anmerken, dass die Eltern ihren Sohn mit einem Schlag hätten zurückbekommen können: Dazu hätten sie nur auf die Bitten der Priester eingehen und sich selbst taufen lassen müssen. Ursprünglich war Edgardo wegen eines Spritzers Wasser und wegen eines Dutzends sinnloser Worte entführt worden. Doch der religiös indoktrinierte Geist ist so albern, dass zwei weitere Spritzer ausgereicht hätten, um das Ganze wieder rückgängig zu machen. Manch einer sieht in der Weigerung der Eltern schiere Halsstarrigkeit; für andere verdienen sie wegen ihrer Prinzipientreue einen Platz in der langen Liste der Märtyrer aller Religionen und Zeitalter.
»Seid getrost und spielt den Mann, Master Ridley; heute werden wir mit Gottes Gnade eine solche Kerze in England anzünden, dass sie niemals wieder ausgeht!« Zweifellos gibt es Anliegen, für die zu sterben etwas Edles ist. Aber wie konnten die anglikanischen Märtyrer Ridley, Latimer (der die gerade zitierten Worte sprach) und Cranmer sich Mitte des 16. Jahrhunderts unter der katholischen Königin Maria lieber verbrennen lassen als ihrem protestantischen »Spitz-Endentum« zu Gunsten des katholischen »Breit-Endentums« abzuschwören – spielt es denn wirklich eine Rolle, an welchem Ende man ein gekochtes Ei aufschlägt? Doch der religiöse Geist ist von einer derart halsstarrigen – oder, wenn man es so sehen will, bewundernswerten – Überzeugung eingenommen, dass die Mortaras es nicht über sich brachten, die Gelegenheit zu ergreifen und das völlig bedeutungslose Ritual der Taufe über sich ergehen zu lassen. Konnten sie nicht die Finger kreuzen oder leise »nicht« flüstern, während sie getauft wurden? Nein, das konnten sie nicht: Sie waren mit einer (gemäßigten) Religion aufgewachsen und nahmen deshalb das ganze lächerliche Theater ernst. Was mich angeht, so denke ich nur an den armen kleinen Edgardo: Er wurde unwissentlich in eine Welt hineingeboren, die vom religiösen Geist beherrscht war, geriet unschuldig ins Kreuzfeuer und wurde durch eine gut gemeinte Tat, die aber für ein kleines Kind eine entsetzliche Grausamkeit bedeutete, praktisch zum Waisen.
An vierter Stelle – um das Thema fortzusetzen – steht die Annahme, man könne überhaupt zu Recht behaupten, dass ein sechsjähriges Kind eine Religion hat, sei es nun die jüdische, die christliche oder irgendeine andere. Um es anders zu formulieren: Die Vorstellung, die Taufe eines unwissenden Kindes, das nichts versteht, könne es mit einem Schlag von einer Religion in eine andere befördern, erscheint absurd – aber sie ist sicher nicht absurder, als wenn man einem kleinen Kind überhaupt das Etikett einer bestimmten Religion aufdrückt. Für Edgardo war nicht »seine« Religion von Bedeutung (er war so klein, dass er überhaupt keine durchdachten religiösen Meinungen haben konnte), sondern die Liebe und Zuwendung seiner Eltern und Angehörigen, und die wurden ihm von zölibatären Priestern geraubt, deren groteske Grausamkeit nur durch ihre völlige Unsensibilität gegenüber normalen menschlichen Gefühlen abgemildert wurde – eine Unsensibilität, die sich nur allzu leicht einstellt, wenn ein Geist vom religiösen Glauben besessen ist.
Aber ist es nicht auch ohne körperliche Entführung immer eine Form der Kindesmisshandlung, wenn man behauptet, die Kinder besäßen einen Glauben, über den sie mit ihrem geringen Alter überhaupt
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