Der Gotteswahn
Stellen wir uns einmal ein ähnliches Foto vor, dessen Unterschrift lautet: »Shadbreet (Keynesianer), Musharaff (Monetarist) und Adele (Marxistin), alle vier Jahre alt.« Wären dann die wütenden Protestbriefe nicht vorprogrammiert? Sie sollten es jedenfalls sein. Aber wegen der eigenartig privilegierten Stellung der Religion hörte man keinen Mucks, und ebenso still ist es auch bei allen anderen ähnlichen Gelegenheiten. Man stelle sich vor, welchen Aufschrei die Bildunterschrift »Shadbreet (Atheist), Musharaff (Agnostiker) und Adele (säkulare Humanistin), alle vier Jahre alt« ausgelöst hätte. Hätte man nicht vielleicht sogar eine Untersuchung gegen die Eltern eingeleitet, um festzustellen, ob sie überhaupt in der Lage sind, Kinder großzuziehen?
Bei uns in Großbritannien, wo es keine verfassungsmäßige Trennung von Staat und Kirche gibt, schwimmen atheistische Eltern in der Regel mit dem Strom und lassen ihren Kindern in der Schule jede Religion beibringen, die in der jeweiligen Kultur gerade die Oberhand hat. »The-Brights.net« (eine amerikanische Initiative, die Atheisten in »Brights« umbenennt, wie es den Homosexuellen mit dem Begriff »Gays« gelungen ist) achtet genau darauf, unter welchen Bedingungen sie Kinder als Mitglieder aufnimmt: »Die Entscheidung, ein Bright zu sein, muss vom Kind kommen. Ein Junge oder Mädchen, dem man sagt, er oder sie müsse oder solle ein Bright werden, kann KEIN Bright sein.« Kann man sich auch nur ansatzweise eine Kirche oder Moschee vorstellen, in der eine solche Regel verkündet wird? Aber sollte man sie nicht eigentlich zwingen, genau das zu tun?
Nebenbei bemerkt: Ich bin Mitglied der Brights geworden, unter anderem weil ich wirklich neugierig war, ob man ein solches Wort memetisch in der Sprache installieren kann. Ebenso wüsste ich sehr gern, ob der Bedeutungswandel von »gay« bewusst herbeigeführt wurde oder sich von selbst eingestellt hat. 164 Die Brights-Kampagne kam nur unter Schwierigkeiten in Gang, weil einige Atheisten sie aus Angst, man könne sie als »arrogant« brandmarken, nachdrücklich verteufelten. Dagegen leidet die Schwulenbewegung glücklicherweise nicht an einer solchen falschen Bescheidenheit, und das dürfte der Grund sein, warum sie Erfolg hatte.
In einem vorangegangenen Kapitel habe ich mich allgemein mit dem Thema der »Bewusstseinserweiterung« befasst und dabei zunächst darauf hingewiesen, welche Leistung die Feministinnen vollbracht haben: Heute zucken wir zusammen, wenn wir Formulierungen wie »Männer guten Willens« an Stelle von »Menschen guten Willens« hören. Ich möchte hier das Bewusstsein in anderer Hinsicht erweitern. Ich meine, wir sollten jedes Mal protestieren, wenn ein Kind so etikettiert wird, als gehörte es zu dieser oder jener Religion. Kleine Kinder können noch nicht selbst entscheiden, welche Ansichten sie über den Ursprung des Kosmos, das Leben oder moralische Prinzipien haben. Bei einer Formulierung wie »christliches Kind« oder »muslimisches Kind« sollte es uns eigentlich kalt den Rücken herunterlaufen.
Der folgende Bericht wurde am 3. September 2001 in der Sendung »Irish Aires« des amerikanischen Radiosenders KPFT-FM ausgestrahlt:
Katholische Schülerinnen trafen auf Proteste von Loyalisten, als sie die Holy Cross Girls’ Primary School an der Ardoyne Road im Norden von Belfast betreten wollten. Beamte der Royal Ulster Constabulary (RUC) und Soldaten der Britischen Armee (BA) mussten die Demonstranten abdrängen, weil diese versuchten, die Schule zu blockieren. Drängelgitter wurden errichtet, damit die Kinder zwischen den Reihen der Protestierenden zur Schule gehen konnten. Die Loyalisten höhnten und schrieen »sektiererische Misshandlung«, als die Kinder, manche davon erst vier Jahre alt, von ihren Eltern zur Schule begleitet wurden. Als Kinder und Eltern durch die Eingangstür der Schule traten, warfen die Loyalisten mit Flaschen und Steinen.
Natürlich wird jeder anständige Mensch wegen des Martyriums dieser unglückseligen Schülerinnen zusammenzucken. Ich möchte aber erreichen, dass wir auch bei dem Gedanken zusammenzucken, sie überhaupt als »katholische Schülerinnen« zu bezeichnen. (»Loyalisten« ist, wie bereits im ersten Kapitel erwähnt, die schönfärberische nordirische Bezeichnung für Protestanten, genau wie die Katholiken beschönigend als »Nationalisten« bezeichnet werden. Menschen, die Kinder ohne Zögern als »Katholiken« oder »Protestanten« brandmarken,
Weitere Kostenlose Bücher