Der Gotteswahn
schrecken davor zurück, die gleichen religiösen Etiketten auf erwachsene Terroristen und den Pöbel anzuwenden – was weitaus angemessener wäre.)
Unsere Gesellschaft einschließlich ihrer nicht religiösen Teile hat den absurden Gedanken akzeptiert, dass es normal und richtig sei, kleine Kinder mit der Religion ihrer Eltern zu indoktrinieren und ihnen religiöse Etiketten anzuhängen – »katholisches Kind«, »protestantisches Kind«, »jüdisches Kind«, »muslimisches Kind«, und so weiter. Andere vergleichbare Etiketten dagegen gibt es nicht: keine konservativen Kinder, keine liberalen Kinder, keine republikanischen Kinder, keine demokratischen Kinder. Bitte, bitte: Erweitern Sie in dieser Hinsicht Ihr Bewusstsein und protestieren Sie, wenn Sie so etwas hören. Ein Kind ist weder ein christliches noch ein muslimisches Kind, sondern es ist das Kind christlicher oder muslimischer Eltern. Ein solcher Sprachgebrauch wäre übrigens auch ein ausgezeichnetes Mittel, um das Bewusstsein der Kinder selbst zu erweitern. Wenn ein Kind hört, es sei »das Kind muslimischer Eltern«, wird ihm sofort klar, dass es Religion annehmen – oder ablehnen – kann, wenn es alt genug dazu ist.
Man kann sogar mit gutem Grund die Ansicht vertreten, dass es für die Bildung von Nutzen ist, wenn Religionen im Schulunterricht verglichen werden. Ich selbst bekam meine ersten Zweifel ungefähr mit neun Jahren, als ich (nicht in der Schule, sondern von meinen Eltern) erfuhr, die christliche Religion, mit der ich aufgewachsen war, sei nur eines von vielen einander ausschließenden Glaubenssystemen. Dies wissen auch die Religionsvertreter selbst, und es macht ihnen häufig Angst. Nach dem Bericht des Independent über das Krippenspiel wandte sich kein einziger Leserbrief gegen die religiöse Etikettierung der Vierjährigen. Der einzige negative Brief stammte von der »Campaign for Real Education«; deren Sprecher Nick Seaton erklärte, multireligiöser Unterricht sei höchst gefährlich, weil »die Kinder heutzutage lernen, dass alle Religionen den gleichen Wert haben, und das bedeutet, dass ihre eigene keinen besonderen Wert mehr hat«. Ja, es stimmt: Genau das bedeutet es. Es kann gut sein, dass dieser Sprecher darüber besorgt ist. Denn bei einer anderen Gelegenheit sagte derselbe Mann: »Alle Glaubensrichtungen als gleichermaßen gültig darzustellen ist falsch. Jeder hat das Recht, seinen Glauben gegenüber den anderen für überlegen zu halten, sei er nun Hindu, Jude, Muslim oder Christ – welchen Sinn hat es sonst überhaupt, einen Glauben zu haben?«
Genau. Welchen Sinn hat das? Und welch leicht durchschaubarer Unsinn ist das! Natürlich sind die genannten Glaubensrichtungen untereinander nicht vereinbar. Welchen Sinn hätte es sonst, den eigenen Glauben für überlegen zu halten? Die meisten Glaubensrichtungen können also nicht »den anderen überlegen« sein. Lasst die Kinder etwas über unterschiedliche Glaubensrichtungen lernen, lasst sie selbst merken, dass verschiedene Religionen unvereinbar sind, und lasst sie aus den Folgen dieser Unvereinbarkeit ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Und was die Frage angeht, ob eine davon »gültig« ist: Lasst sie selbst entscheiden, wenn sie alt genug dazu sind.
Der Religionsunterricht als Teil der literarischen Kultur
Eines muss ich allerdings zugeben: Selbst ich bin ein wenig erschrocken darüber, wie wenig die Menschen, die einige Jahrzehnte später als ich erzogen wurden, über die Bibel wissen. Vielleicht hat es auch überhaupt nichts mit den Jahrzehnten zu tun. Wie Robert Hinde in seinem gedankenreichen Buch Why Gods Persist (»Warum die Götter so hartnäckig sind«) berichtet, gelangte eine Gallup-Umfrage in den Vereinigten Staaten schon 1954 zu interessanten Ergebnissen: Drei Viertel aller Katholiken und Protestanten konnten keinen einzigen Propheten aus dem Alten Testament benennen. Mehr als zwei Drittel wussten nicht, wer die Bergpredigt gehalten hatte. Eine beträchtliche Anzahl der Befragten hielt Mose für einen der zwölf Jünger Jesu. Wohlgemerkt, das war in den Vereinigten Staaten, die deutlich stärker religiös orientiert sind als andere Industrieländer.
Die King-James-Bibel von 1611 – die so genannte Authorized Version – enthält Passagen von herausragendem literarischem Wert, zum Beispiel das Hohelied Salomos und den erhabenen Prediger Salomo (der, wie man mir gesagt hat, auch im originalen Hebräisch sehr gut ist). Aber dass die Bibel ein Teil
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