Der Gotteswahn
einen Gott geben, denn wenn er nicht existieren würde, wäre das Leben leer, sinnlos, vergeblich, eine Wüste aus Sinn- und Bedeutungslosigkeit. Warum muss man überhaupt darauf hinweisen, dass diese Logik schon über das erste Hindernis stolpert? Vielleicht ist das Leben leer. Vielleicht sind unsere Gebete für die Toten tatsächlich sinnlos. Doch wenn man das Gegenteil annimmt, setzt man bereits die Wahrheit der Schlussfolgerung voraus, die man überhaupt erst beweisen will. Der angebliche Beweis ist ganz offenkundig ein Zirkelschluss.
Das Leben ohne die Ehefrau kann durchaus unerträglich, öde und leer sein, aber das verhindert leider nicht, dass sie tot ist. Die Annahme, jemand anders (bei Kindern die Eltern, bei Erwachsenen Gott) habe die Aufgabe, unserem Leben Sinn und Bedeutung zu geben, hat etwas Kindisches. Es ist die infantile Haltung dessen, der mit dem Fuß umknickt und sofort jemanden sucht, den er deswegen verklagen kann. Jemand anders muss für mein Wohlergehen verantwortlich sein, und wenn ich mir wehtue, ist ein anderer daran schuld. Steht die gleiche infantile Haltung in Wirklichkeit nicht auch hinter dem »Bedürfnis« nach einem Gott? Sind wir wieder bei Binker?
Die wirklich erwachsene Einstellung dagegen lautet: Unser Leben ist so sinnvoll, so ausgefüllt und großartig, wie wir selbst es gestalten. Und wir können es wirklich großartig gestalten. Wenn Wissenschaft überhaupt einen nicht materiellen Trost spenden kann, dann fließt er in mein letztes Thema ein: die Inspiration.
Inspiration
Hier geht es um eine Frage des Geschmacks oder des persönlichen Urteils, und das hat eine unglückliche Folge: Ich muss mich nun einer rhetorischen statt einer logischen Argumentation bedienen. Genau das habe ich auch früher schon getan – wie viele andere, darunter in jüngerer Zeit Carl Sagan in Pale Blue Dot (Blauer Punkt im All) , E.O. Wilson in Biophilia , Michael Shermer in The Soul of Science (»Die Seele der Wissenschaft«) und Paul Kurtz in Affirmations (»Bestätigungen«). In meinem Buch Unweaving the Rainbow (Der entzauberte Regenbogen) wollte ich deutlich machen, welches Glück wir haben, dass wir überhaupt am Leben sind – immerhin muss man bedenken, dass die große Mehrzahl der Menschen, die aus der Kombinationslotterie der DNA hervorgehen könnten, in Wirklichkeit nie geboren wird. Für uns, die wir Glück haben und da sind, habe ich die relativ kurze Dauer des Lebens mit einem dünnen Scheinwerferstrahl verglichen, der an einem riesigen Zeitmaßstab entlangkriecht. Vor und hinter dem Lichtpunkt ist alles in die Dunkelheit der toten Vergangenheit oder in die Dunkelheit der unbekannten Zukunft gehüllt. Wir haben unglaubliches Glück, dass wir uns gerade in diesem Scheinwerferkegel befinden. Unsere Zeit in der Sonne mag kurz sein, aber angenommen, wir vergeuden auch nur eine Sekunde davon oder beschweren uns, sie sei düster, öde oder (wie für ein Kind) langweilig: Kann man darin nicht eine kaltschnäuzige Beleidigung gegenüber den Milliarden Ungeborenen sehen, die gar nicht erst die Gelegenheit zum Leben bekommen haben?
Schon viele Atheisten haben es besser formuliert, als ich es könnte: Das Wissen, dass wir nur ein Leben haben, macht dieses Leben umso kostbarer. Entsprechend lebensbejahend und lebensbekräftigend ist die atheistische Weltanschauung, und gleichzeitig ist sie nicht von Selbsttäuschung, Wunschdenken oder dem weinerlichen Selbstmitleid jener gefärbt, die glauben, das Leben sei ihnen etwas schuldig. Emily Dickinson hat einmal gesagt:
Dass es niemals wiederkommt,
Macht das Leben ja so süß.
Wenn Gottes Abdankung eine Lücke hinterlässt, werden einzelne Menschen sie auf unterschiedliche Art ausfüllen. Meine Methode umfasst eine kräftige Dosis Naturwissenschaft: das ehrliche, systematische Bemühen, die Wahrheit über die Wirklichkeit herauszufinden. Für mich sind die Bestrebungen der Menschen, das Universum zu verstehen, ein Modellbauunternehmen. Jeder von uns baut sich in seinem Kopf ein Modell der Welt auf, in der wir uns befinden. Das kleinstmögliche derartige Modell ist das, was unsere Vorfahren brauchten, um in dieser Welt zu überleben. Die Simulationssoftware wurde durch die natürliche Selektion konstruiert und von Fehlern befreit, und am besten eignet sie sich für die Welt, die unseren Vorfahren in der afrikanischen Savanne vertraut war: eine dreidimensionale Welt aus Gegenständen mittlerer Größe, die sich im Verhältnis zueinander mit
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