Der Gotteswahn
Bernhardiner mit einem Schnapsfass um den Hals, ist ganz und gar plausibel. Natürlich kann auch wissenschaftliche Arznei trösten – in der Regel sogar wirksamer als Schnaps.
Was die zweite Art von Trost angeht, so kann man ebenfalls ohne weiteres glauben, dass Religion hier sehr wirksam ist. Nach einer schrecklichen Katastrophe, beispielsweise einem Erdbeben, berichten die Betroffenen sehr häufig, sie hätten Trost aus dem Gedanken bezogen, dass alles zu Gottes unergründlichem Plan gehöre: Zu gegebener Zeit werde es sicher sein Gutes haben. Wenn man sich vor dem Tod fürchtet, wirkt der ehrliche Glaube, man habe eine unsterbliche Seele, sicher tröstlich – es sei denn, man glaubt, sie werde in der Hölle oder im Fegefeuer landen. Falsche Überzeugungen können in jeder Hinsicht genauso tröstlich sein wie richtige, und zwar bis zum Augenblick der Desillusionierung. Das gilt auch für Überzeugungen, die nichts mit Religion zu tun haben. Wer an Krebs im Endstadium leidet, lässt sich vielleicht trösten, wenn der Arzt ihm vorlügt, er sei geheilt, und dieser Trost ist ebenso wirksam wie bei einem anderen, bei dem die Aussage über die Heilung der Wahrheit entspricht. Der ehrliche, aus tiefstem Herzen kommende Glaube an ein Leben nach dem Tod ist gegen eine Desillusionierung noch besser gefeit als der Glaube an einen lügenden Arzt. Die Lüge des Arztes wirkte nur so lange, bis die Symptome nicht mehr zu übersehen sind. Wer an ein Leben nach dem Tod glaubt, kann letztlich niemals desillusioniert werden.
Umfragen zufolge glauben in den Vereinigten Staaten ungefähr 95 Prozent der Bevölkerung, sie würden nach dem Tod weiterleben. Lassen wir ehrgeizige Märtyrer einmal beiseite. Dann muss ich mich einfach fragen, welcher Anteil der gemäßigt religiösen Menschen im tiefsten Inneren wirklich daran glaubt. Angenommen, sie wären wirklich ehrlich: Müssten sie sich dann nicht alle verhalten wie der Abt von Ampleforth? Als Kardinal Basil Hume ihm sagte, er (der Kardinal) liege im Sterben, war der Abt begeistert: »Herzlichen Glückwunsch! Das ist ja großartig. Am liebsten würde ich gleich mitkommen.« 171 Der Abt war anscheinend ehrlich gläubig. Aber gerade weil das so selten ist und so unerwartet kommt, erregt die Geschichte unsere Aufmerksamkeit und gibt fast Anlass zur Belustigung – das Ganze erinnert an die Karikatur einer splitternackten jungen Frau, die ein Transparent mit der Aufschrift »Make Love Not War« trägt und der ein Zuschauer zuruft: »Das nenne ich wahre Überzeugung!«
Warum sagen nicht alle Christen und Muslime etwas Ähnliches wie der Abt, wenn sie hören, dass ein Freund in Sterben liegt? Wenn eine gläubige Frau vom Arzt erfährt, sie habe nur noch wenige Monate zu leben, warum strahlt sie dann nicht vor Vorfreude, als ob sie gerade einen Urlaub auf den Seychellen gewonnen hätte? Warum ruft sie nicht: »Ich kann es gar nicht mehr erwarten!«? Warum bombardieren die gläubigen Besucher an ihrem Krankenbett sie nicht mit Nachrichten für jene, die schon früher gegangen sind? »Grüß meinen Onkel Robert von mir, wenn du ihn siehst …«
Warum reden religiöse Menschen in Gegenwart von Sterbenden nicht so? Könnte es sein, dass sie all das, was sie behaupten, in Wirklichkeit gar nicht glauben? Oder vielleicht glauben sie es, fürchten sich jedoch vor dem Vorgang des Sterbens. Dazu besteht durchaus Anlass angesichts der Tatsache, dass unsere Spezies als Einzige nicht einfach zum Tierarzt gehen darf, um sich schmerzlos aus dem Elend befreien zu lassen. Aber wenn es so ist, warum kommt dann der lautstärkste Widerstand gegen Sterbehilfe und Beihilfe zum Selbstmord aus dem religiösen Lager? Würde man angesichts einer Todesvorstellung à la »Abt von Ampleforth« oder »Urlaub auf den Seychellen« nicht damit rechnen, dass religiöse Menschen am allerwenigsten am irdischen Leben hängen? Verblüffenderweise ist es anders: Wenn man jemanden trifft, der sich leidenschaftlich gegen Sterbehilfe oder Beihilfe zum Selbstmord ausspricht, kann man in der Regel darauf wetten, dass es sich um einen religiösen Menschen handelt. Offiziell wird es damit begründet, dass Töten eine Sünde ist. Indes, warum stuft man es denn als Sünde ein, wenn man ehrlich glaubt, dass man damit einem anderen zu einer schnelleren Reise in den Himmel verhilft?
In der Frage nach der Beihilfe zum Selbstmord geht meine Einstellung von der bereits zitierten Beobachtung von Mark Twain aus. Tot zu sein ist nichts
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