Der Gotteswahn
anderes, als wäre man gar nicht geboren – ich werde mich dann im gleichen Zustand befinden wie zur Zeit Williams des Eroberers, der Dinosaurier oder der Trilobiten. Und das ist nichts, wovor man Angst haben müsste. Der Prozess des Sterbens indes kann je nachdem, wie viel Glück oder Pech man hat, schmerzhaft und unangenehm sein – und wir haben uns daran gewöhnt, dass wir uns vor solchen Erlebnissen mit einer Vollnarkose wie bei einer Blinddarmoperation schützen können. Wer ein Haustier unter Schmerzen sterben lässt, wird wegen Tierquälerei verurteilt, wenn er nicht zum Tierarzt geht und dem Tier eine Narkose verabreichen lässt, aus der es nicht mehr aufwacht. Erweist ein Arzt jedoch einem Menschen, der mit großen Schmerzen im Sterben liegt, den gleichen barmherzigen Dienst, läuft er Gefahr, wegen Mordes angeklagt zu werden.
Wenn ich sterbe, soll mir das Leben unter Vollnarkose herausgenommen werden, als wäre es ein erkrankter Blinddarm. Aber dieses Vorrecht wird mir nicht zuteil werden, denn ich habe das Pech, dass ich als Angehöriger der Spezies Homo sapiens zur Welt gekommen bin und nicht etwa als Hund (Canis familiaris) oder Hauskatze (Felis catus). Das gilt zumindest dann, wenn ich nicht in ein aufgeklärteres Land wie die Schweiz, die Niederlande oder den US-Staat Oregon ziehe. Warum gibt es nur so wenige aufgeklärte Regionen? Vor allem weil die Religion so starken Einfluss hat.
Nun könnte man natürlich sagen: Ist es nicht ein großer Unterschied, ob einem der Blinddarm oder das Leben herausgenommen wird? Eigentlich nicht – jedenfalls dann nicht, wenn man ohnehin sterben wird. Und auch dann nicht, wenn man religiös ist und ehrlich an ein Leben nach dem Tode glaubt. Wenn man diesen Glauben hat, ist das Sterben nur der Übergang von einem Leben in ein anderes. Und falls der Übergang mit Schmerzen verbunden ist, sollte man ihn ebenso wenig ohne Narkose vollziehen wollen wie eine Blinddarmoperation. Naiverweise sollte man eher damit rechnen, dass wir, die wir den Tod für etwas Endgültiges und nicht für einen Übergang halten, uns gegen Sterbehilfe oder Beihilfe zum Selbstmord wenden. Und doch sind gerade wir diejenigen, die sich dafür aussprechen. [58]
Unter den gleichen Gesichtspunkten müssen wir uns auch fragen, was wir mit der Beobachtung einer meiner Bekannten anfangen sollen, einer älteren Frau, die ihr ganzes Leben lang ein Altersheim geleitet hatte und mit dem Tod ganz und gar vertraut war. Sie stellte im Laufe der Jahre fest, dass religiöse Menschen meist die größte Angst vor dem Tod haben. Natürlich müsste man ihre Beobachtung statistisch untermauern, aber nehmen wir einmal an, sie hätte Recht: Was ist da los? Was auch immer die Ursache sein mag, spricht dies nicht nachdrücklich dagegen, dass Religion in der Lage sei, Sterbende zu trösten? [59] Liegt es im Fall der Katholiken vielleicht an der Angst vor dem Fegefeuer? Der fromme Kardinal Hume verabschiedete sich von seinen Freunden mit folgenden Worten: »Nun denn, lebt wohl. Ich nehme an, wir sehen uns im Fegefeuer wieder.« Ich nehme an, dass in diesen freundlichen alten Augen ein skeptisches Zwinkern war.
Die Lehre vom Fegefeuer offenbart auf groteske Weise, wie die theologische Psyche funktioniert. Das Fegefeuer ist eine Art göttliches Ellis Island, ein Wartezimmer der Unterwelt, in das die toten Seelen geschickt werden, wenn ihre Sünden nicht so schlimm waren, dass sie in die Hölle kommen müssten, aber immer noch schlimm genug, dass sie ein wenig Überprüfung und Reinigung brauchen, bevor sie in die sündenfreie Zone des Himmels aufgenommen werden. [60] Im Mittelalter verkaufte die Kirche den »Ablass« für Geld. Das lief darauf hinaus, dass man sich für eine bestimmte Anzahl von Tagen aus dem Fegefeuer freikaufte, und die Kirche gab ganz buchstäblich (und mit atemberaubender Anmaßung) unterschriebene Zertifikate heraus, in denen die Zahl der freigekauften Tage genau bezeichnet war. Es ist, als wäre der Ausdruck »unrechtmäßig« speziell für die Einnahmen der katholischen Kirche erfunden worden. Und unter allen ihren Methoden, durch Nepp an Geld zu gelangen, ist der Ablasshandel sicher eine der größten Betrügereien in der Geschichte, das mittelalterliche Gegenstück zum nigerianischen Internetbetrug, aber mit weitaus größerem Erfolg.
Noch 1903 konnte Papst Pius X. genau aufführen, wie viele Tage Befreiung aus dem Fegefeuer die einzelnen Ränge der Hierarchie vergeben durften: Kardinäle 200
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