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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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mäßiger Geschwindigkeit bewegen. Ein unerwarteter Zusatznutzen besteht darin, dass unser Gehirn sehr leistungsfähig ist und sich auch auf ein Modell der Welt einstellen kann, das viel reichhaltiger ist als die nützlichkeitsorientierten Vorstellungen, die unsere Vorfahren zum Überleben brauchten. Kunst und Wissenschaft sind Ausdrucksformen dieses Zusatznutzens, die sich verselbstständigt haben. Ich möchte ein letztes Bild zeichnen und damit vermitteln, wie gut die Naturwissenschaft unseren Geist öffnen und die Psyche zufriedenstellen kann.

Die Mutter aller Burkas

    Zum Unerfreulichsten, was man heutzutage auf unseren Straßen zu sehen bekommt, gehören Frauen, die, von Kopf bis Fuß in einen formlosen schwarzen Umhang gehüllt, die Welt um sich herum nur durch einen winzigen Schlitz wahrnehmen können. Die Burka ist nicht nur ein Instrument zur Unterdrückung der Frauen und zur frömmelnden Beschneidung ihrer Freiheit und Schönheit; und sie ist auch nicht nur ein Kennzeichen empörender männlicher Grausamkeit und tragisch-ängstlicher weiblicher Unterwerfung. Vielmehr möchte ich den schmalen Schlitz im Schleier als Symbol für etwas anderes benutzen.
    Unsere Augen sehen die Welt durch einen schmalen Schlitz im elektromagnetischen Spektrum. Sichtbares Licht ist eine helle Ritze im riesigen dunklen Wellenlängenbereich, der von den Radiowellen am längsten bis zu den Gammastrahlen am kürzesten Ende reicht. Wie schmal
er wirklich ist, kann man sich nur schwer vorstellen, und es zu erklären ist eine echte Herausforderung. Stellen wir uns einmal eine riesige schwarze Burka vor, deren Sehschlitz die übliche Breite von ungefähr zweieinhalb Zentimetern hat. Wenn das kurze schwarze Stück Stoff oberhalb des Schlitzes das kurzwellige Ende des unsichtbaren Spektrums darstellt und das lange Stück Stoff unterhalb des Schlitzes dem langwelligen Ende dieses Spektrums entspricht, wie lang muss die Burka dann insgesamt sein, damit der Sehschlitz im gleichen Maßstab die üblichen zweieinhalb Zentimeter breit ist? Die Längen, um die es hier geht, sind so gewaltig, dass man sie ohne Hinzuziehung logarithmischer Skalen kaum sinnvoll darstellen kann. Das letzte Kapitel eines solchen Buches ist allerdings nicht der richtige Ort, um mit Logarithmen um sich zu werfen. Aber glauben Sie mir: Es wäre die Mutter aller Burkas. Das zweieinhalb Zentimeter breite Fenster des sichtbaren Lichts ist lächerlich klein im Vergleich zu den vielen Kilometern aus schwarzem Stoff, die den unsichtbaren Teil des Spektrums darstellen, von den Radiowellen am unteren Saum bis zu den Gammastrahlen oben auf dem Kopf. Die Naturwissenschaft tut uns den Gefallen, das Fenster zu vergrößern. Sie öffnet es so weit, dass das Gefängnis aus schwarzem Stoff fast völlig von uns abfällt und unseren Sinnen eine luftige, heitere Freiheit verschafft.
    Optische Teleskope suchen den Himmel mit Linsen und Spiegeln aus Glas ab; die Sterne, die sie dabei sehen, geben zufällig Strahlung in dem engen Wellenlängenbereich ab, den wir als sichtbares Licht bezeichnen. Andere Teleskope »sehen« im Bereich der Röntgenstrahlen oder Radiowellen und bieten uns eine Fülle anderer Bilder des Nachthimmels. Im kleineren Maßstab »sehen« auch Kameras mit speziellen Filtern im Ultraviolettbereich, und die mit ihnen aufgenommenen Fotos zeigen Blüten mit fremdartigen Streifen- oder Fleckenmustern, die für Insektenaugen sichtbar sind und offenbar für sie »gestaltet« wurden, für unsere unbewaffneten Augen aber unsichtbar bleiben. Das Wellenlängenfenster der Insekten hat eine ähnliche Größe wie unseres, ist aber in der Burka ein wenig nach oben verschoben: Insekten sind für rote Farben blind, sehen dafür aber ein wenig weiter ins Ultraviolette hinein als wir – in den »ultravioletten Garten«. [62]
    Die Metapher des schmalen Lichtbandes, das sich zu einem ungeheuer breiten Spektrum erweitert, ist auch in anderen Bereichen der Naturwissenschaft nützlich. Wir leben ungefähr in der Mitte eines labyrinthartigen Museums der Größenordnungen und sehen die Welt mit Sinnesorganen und einem Nervensystem, die so ausgelegt sind, dass wir nur einen kleinen, mittleren Größenbereich wahrnehmen und verstehen, und auch das nur, wenn die betreffenden Objekte sich mit mittlerer Geschwindigkeit bewegen. Wir sind vertraut mit Gegenständen in der Größenordnung zwischen einigen Kilometern (der Blick von einem Berggipfel) und einem Zehntelmillimeter (die Spitze einer

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