Der Gotteswahn
Tage, Erzbischöfe 100 Tage, Bischöfe nur 50 Tage. Zu jener Zeit wurde der Ablass allerdings bereits nicht mehr unmittelbar für Geld verkauft. Selbst im Mittelalter war Geld nicht die einzige Währung, mit der man sich die Entlassung aus dem Fegefeuer verschaffen konnte. Man konnte auch mit Gebeten bezahlen, entweder indem man selbst vor dem Tod betete oder indem andere für den Toten beteten. Und mit Geld konnte man Gebete kaufen. Wer reich war, konnte für alle Ewigkeit Vorsorge für die eigene Seele treffen. Meine eigene Hochschule, das New College in Oxford, wurde 1379 (damals war es wirklich neu) von einem der großen Wohltäter jenes Jahrhunderts gegründet: von William of Wykeham, Bischof von Winchester. Ein mittelalterlicher Bischof konnte zum Bill Gates seiner Zeit werden. Er kontrollierte die Entsprechung zur Datenautobahn (die damals zu Gott führte) und häufte ungeheure Reichtümer an. Seine Diözese war besonders groß, und Wykeham nutzte Geld und Einfluss, um zwei große Bildungseinrichtungen zu gründen, die eine in Winchester, die andere in Oxford. Bildung war ihm wichtig, aber in der offiziellen Geschichte des New College, die 1979 zum sechshundertsten Gründungsjubiläum erschien, wird als wichtigstes Ziel des College etwas anderes genannt: Es war »eine große Kirche, in der Fürbittegebete für sein Seelenheil gesprochen werden sollten. Für den Dienst in der Kapelle stellte er zehn Kapläne, drei Priester und 16 Chorknaben ab, und er ordnete an, dass sie als Einzige in ihrer Stellung bleiben sollten, wenn die Einnahmen des Colleges zurückgingen.« Wykeham übergab das New College an die Fellowship, ein Gremium, das seine Mitglieder selbst wählt und mittlerweile seit über 600 Jahren ununterbrochen als feste Körperschaft existiert. Vermutlich vertraute er darauf, dass wir über Jahrhunderte hinweg weiterhin für seine Seele beten würden.
Heute hat das College nur einen Kaplan [61] und keine Priester mehr, und der stetige, jahrhundertelange Sturzbach der Gebete für Wykeham im Fegefeuer ist auf ein Rinnsal von zwei Gebeten pro Jahr geschrumpft. Nur die Chorsänger stehen nach wie vor in Saft und Kraft, und ihre Musik ist tatsächlich zauberhaft. Selbst ich empfinde als Mitglied dieser Fellowship einen Anflug von Schuldgefühlen wegen Vertrauensmissbrauchs.
Nach dem Verständnis seiner eigenen Zeit tat Wykeham das Gleiche wie ein heutiger reicher Mann, der eine hohe Vorschusszahlung an ein Unternehmen leistet, das ihm garantiert, es werde seine Leiche einfrieren und vor Erdbeben, inneren Unruhen, Atomkrieg und anderen Gefahren schützen, bis die medizinische Wissenschaft irgendwann in der Zukunft herausgefunden hat, wie man ihn auftauen und die Krankheit, an der er gestorben ist, heilen kann. Werden wir als spätere Fellows des New College seinem Gründer gegenüber vertragsbrüchig? Wenn es so ist, sind wir in guter Gesellschaft. Hunderte von mittelalterlichen Wohltätern starben im Vertrauen darauf, dass ihre Erben, die dafür gut bezahlt wurden, ihnen durch Gebete die Zeit im Fegefeuer verkürzen würden. Für mich stellt sich unausweichlich die Frage, welcher Teil der mittelalterlichen Kunst- und Architekturschätze in Europa ursprünglich Abschlagszahlungen auf die Ewigkeit waren, für die heute die Treuepflicht verletzt wird.
Was mich aber an der Lehre vom Fegefeuer am meisten fasziniert, ist der Beleg , den die Theologen dafür nannten: Dieser Beleg ist so ungeheuer schwach, dass das muntere Selbstvertrauen, mit dem er vorgebracht wird, geradezu komisch wirkt. Der Artikel der Catholic Encyclopedia über das Fegefeuer enthält einen Abschnitt mit der Überschrift »Beweise«. Darin wird als entscheidender Beleg für die Existenz des Fegefeuers Folgendes angeführt: Wenn die Toten allein auf der Grundlage ihrer irdischen Sünden in den Himmel oder die Hölle wandern würden, hätte es keinen Sinn, für sie zu beten. »Warum soll man für die Verstorbenen beten, wenn man nicht daran glaubt, dass Gebete die Macht haben, jenen, die bisher vom Antlitz Gottes ausgeschlossen sind, Trost zu spenden?« Schließlich beten wir doch für die Toten, oder? Also muss es ein Fegefeuer geben, sonst wären die Gebete sinnlos! Q.e.d. Dies ist, ganz im Ernst, ein Beispiel dafür, was im theologischen Geist als vernünftiges Denken durchgeht.
Der gleiche bemerkenswerte Trugschluss spiegelt sich in größerem Maßstab auch in einer anderen häufigen Anwendung des Tröstungsarguments. Sie lautet: Es muss
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