Der Gotteswahn
kennen, selbst wenn wir ganz prosaische, dem gesunden Menschenverstand entsprechende Tatsachen einschließen. Aber um ihre Voraussagen treffen zu können, muss die Quantentheorie derart rätselhafte Annahmen voraussetzen, dass selbst der große Feynman sich zu der Bemerkung hinreißen ließ: »Wenn Sie glauben, Sie verstehen die Quantentheorie … dann verstehen Sie die Quantentheorie nicht.« (Es gibt mehrere Versionen des Zitats, aber diese erscheint mir am prägnantesten.) [63]
Die Quantentheorie ist so seltsam, dass Physiker bei dieser oder jener paradoxen »Interpretation« Zuflucht suchen. »Zuflucht« ist tatsächlich das richtige Wort. David Deutsch macht sich in seinem Buch The Fabric of Reality (Die Physik der Welterkenntnis) die »Viele-Welten-Interpretation« der Quantentheorie zu eigen, vielleicht weil man von ihr nichts Schlechteres sagen kann, als dass sie auf groteske Weise verschwenderisch ist. Sie postuliert eine riesige, schnell wachsende Zahl von Universen, die parallel zueinander existieren und gegenseitig nicht nachweisbar sind, außer über das enge Schlupfloch quantenmechanischer Experimente. In manchen dieser Universen bin ich bereits tot. In einer kleinen Minderheit von ihnen haben Sie einen grünen Schnauzbart. Und so weiter.
Eine Alternative, die »Kopenhagener Interpretation«, ist ebenso grotesk – nicht verschwenderisch, aber erschütternd paradox. Ihr galt Erwin Schrödingers satirische Parabel von der Katze. Schrödingers Katze ist in einer Kiste eingeschlossen, in der ein quantenmechanisches Ereignis einen Tötungsmechanismus in Gang setzt. Bevor wir den Deckel der Kiste öffnen, wissen wir nicht, ob die Katze tot ist. Der gesunde Menschenverstand sagt uns aber, dass die Katze sich dennoch tot oder lebendig in der Kiste befinden muss. Die Kopenhagener Interpretation widerspricht dem gesunden Menschenverstand: Das Einzige, was vor dem Öffnen der Kiste existiert, ist eine Wahrscheinlichkeit. Sobald wir die Kiste öffnen, bricht die Wellenfunktion zusammen, und uns bleibt nur noch ein einziges Ereignis: Die Katze ist tot, oder die Katze ist lebendig. Bevor wir den Deckel aufgeklappt haben, war sie weder tot noch lebendig.
Betrachtet man den gleichen Vorgang nach der »Viele-Welten-Interpretation«, ist die Katze in manchen Universen tot, und in anderen ist sie lebendig. Keine der beiden Interpretationen stellt den gesunden Menschenverstand oder unsere Intuition zufrieden. Hartgesottene Physiker stört das nicht. Für sie ist nur wichtig, dass die Mathematik funktioniert und dass die Voraussagen sich experimentell bestätigen lassen. Die meisten Menschen haben jedoch nicht genug Mumm, um ihnen zu folgen. Offenbar haben wir ein Bedürfnis , uns bildlich vorzustellen, was »wirklich« vorgeht. Nebenbei bemerkt: Ich weiß, dass Schrödinger sein Gedankenexperiment mit der Katze ursprünglich formulierte, um die in seinen Augen absurde Kopenhagener Interpretation bloßzustellen.
Nach Ansicht des Biologen Lewis Wolpert sind die seltsamen Aspekte der modernen Physik nur die Spitze eines Eisberges. Wissenschaft tut – anders als Technologie – dem gesunden Menschverstand ganz allgemein Gewalt an. 173 Nach einer Berechnung von Wolpert ist beispielsweise die Zahl der Moleküle in einem Glas Wasser wesentlich größer als die Zahl möglicher Füllungen für ein Glas Wasser aus dem Meer. Und da das gesamte Wasser auf unserem Planeten in seinem Kreislauf das Meer durchläuft, folgt daraus die Erkenntnis: Jedes Mal, wenn wir ein Glas Wasser trinken, bestehen gute Chancen, dass wir dabei ein Molekül zu uns nehmen, das einmal die Harnblase von Oliver Cromwell durchlaufen hat. Mit Cromwell oder der Harnblase hat es dabei natürlich keine besondere Bewandtnis. Haben Sie denn nicht gerade ein Stickstoffatom eingeatmet, das schon einmal von dem Iguanodon links von der hohen Urzeitpalme ausgeatmet wurde?
Freuen Sie sich nicht darüber, dass Sie in einer Welt leben, die solche Vermutungen nicht nur möglich macht, sondern in der Sie auch das Privileg haben, die Gründe dafür zu verstehen? Und in der Sie es Ihren Gegenübern erklären können – nicht als Ihre persönliche Meinung, sondern als etwas, das Sie nach eigenem Empfinden zwangsläufig anerkennen müssen, wenn Sie Ihren Gedankengang verstanden haben? Vielleicht meinte Carl Sagan unter anderem auch diesen Aspekt, als er erläuterte, warum er sein Buch The Demon-Haunted World: Science as a Candle in the Dark (Der Drache in meiner Garage
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