Der Gotteswahn
zwei Atome länger. Ein Hund, dem die Caprinsäure noch nie begegnet ist, kann sich ihren Geruch wahrscheinlich ebenso leicht vorstellen, wie wir uns einen Trompetenton ausmalen, der einen Ganzton höher ist als jener, den wir zuvor gerade gehört haben.
Für mich ist es eine völlig vernünftige Vermutung, dass ein Hund oder ein Nashorn eine Mischung verschiedener Gerüche als harmonischen Akkord wahrnimmt. Vielleicht gibt es auch Dissonanzen. Melodien existieren wahrscheinlich nicht, denn eine Melodie besteht aus Tönen, die im Gegensatz zu Gerüchen nach einem ganz bestimmten zeitlichen Muster anfangen und aufhören. Vielleicht riechen Hunde und Nashörner auch in Farben. Dann würde auf sie die gleiche Argumentation zutreffen wie auf die Fledermäuse.
Auch hier sind die Wahrnehmungen, die wir als Farben bezeichnen, nichts anderes als Hilfsmittel, mit denen unser Gehirn wichtige Unterschiede in der Umwelt kennzeichnet. Wahrgenommene Farbtöne – Philosophen sprechen von Qualia – stehen in keinem inneren Zusammenhang mit Licht bestimmter Wellenlängen. Es sind interne Kennzeichnungen, die dem Gehirn zur Verfügung stehen, wenn es sein Modell der Außenwelt konstruiert, und es trifft damit Unterscheidungen, die dem betreffenden Tier besonders ins Auge springen. In unserem Fall oder dem der Vögel handelt es sich dabei um Licht unterschiedlicher Wellenlängen. Im Fall der Fledermaus, so jedenfalls meine Spekulation, könnte es sich um Oberflächen mit unterschiedlicher Beschaffenheit oder unterschiedlichen Schallreflexionseigenschaften handeln: Dann ist rot vielleicht glatt, blau samtig und grün rau. Und warum sollten es im Fall eines Hundes oder Nashorns nicht Gerüche sein? Die Fähigkeit, uns die fremdartige Welt von Fledermäusen und Nashörnern, Ruderwanzen oder Maulwürfen, Bakterien oder Borkenkäfern auszumalen, gehört zu den Privilegien, die uns die Wissenschaft verschafft, wenn sie am dunklen Tuch unserer Burka zieht und uns das breitere Spektrum der Dinge zeigt, die es gibt und über die wir uns freuen können.
Die Metapher der Mittelwelt – jenes mittlere Spektrum der Phänomene, auf die uns der schmale Schlitz unserer Burka einen Blick gestattet – lässt sich auch auf andere Maßstäbe oder »Spektren« anwenden. Wir können eine Skala der Unwahrscheinlichkeit aufstellen, auf der unsere Intuition und Fantasie nur durch ein ähnlich schmales Fenster hindurchgehen können. Am einen Ende dieses Unwahrscheinlichkeitsspektrums stehen potenzielle Ereignisse, die wir als unmöglich bezeichnen. Wunder sind äußerst unwahrscheinliche Ereignisse. Eine Madonnenstatue könnte uns zuwinken. Alle Atome in ihrer Kristallstruktur vibrieren hin und her. Da es so viele sind und da sie keine Bewegungsrichtung bevorzugen, bleibt die Hand, wie wir sie in der Mittelwelt sehen, felsenfest und unbeweglich. Aber die wackelnden Atome in der Hand könnten sich rein zufällig alle zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung bewegen. Und noch einmal. Und noch einmal … In diesem Fall würde die Hand sich bewegen, und wir würden sehen, wie sie uns zuwinkt. Es könnte geschehen, aber die Wahrscheinlichkeit, die dagegen spricht, ist gewaltig: Wenn wir am Anbeginn des Universums begonnen hätten, die Zahl aufzuschreiben, hätten wir bis heute noch nicht genug Nullen zu Papier gebracht. Die Fähigkeit, solche Wahrscheinlichkeiten zu berechnen – das nahezu Unmögliche quantitativ zu erfassen, statt nur verzweifelt die Hände zu heben – ist ein weiteres Beispiel dafür, welche befreienden Wohltaten die Wissenschaft dem menschlichen Geist verschafft.
Die Evolution in der Mittelwelt hat uns für den Umgang mit sehr unwahrscheinlichen Ereignissen schlecht gerüstet. Aber in der riesenhaften Größe des Weltalls oder den gewaltigen erdgeschichtlichen Zeiträumen erweisen sich Ereignisse, die in der Mittelwelt unmöglich erscheinen, als unvermeidlich. Die Wissenschaft stößt das schmale
Fenster auf, durch das wir das Spektrum der Möglichkeiten gewohnheitsmäßig betrachten. Berechnungen und Vernunft verschaffen uns die Freiheit, Möglichkeitsregionen zu besuchen, die früher jenseits aller Grenzen zu liegen schienen oder scheinbar von Drachen bewohnt waren.
Eine solche Erweiterung des Fensters haben wir bereits im vierten Kapitel vorgenommen, als wir untersucht haben, wie unwahrscheinlich die Entstehung des Lebens ist und wie selbst ein nahezu unmöglicher chemischer Vorgang sich irgendwann abspielen muss, wenn genügend
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