Der Gotteswahn
einen Schrottplatz fegt, rein zufällig eine Boeing 747 zusammenbaut. Andere wandten diese Metapher später auf die Evolution kompliziert gebauter Lebewesen an, die ebenfalls eine äußerst geringe Plausibilität besitzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass durch zufälliges Durcheinanderwirbeln der Einzelteile ein funktionsfähiges Pferd, ein Käfer oder ein Straußenvogel entstehe, liege im gleichen Bereich wie die des zufälligen Entstehens einer Boeing 747. Das ist, kurz zusammengefasst, das Lieblingsargument der Kreationisten – ein Argument, das man allerdings nur dann vertreten kann, wenn man den wichtigsten Aspekt der natürlichen Selektion nicht begriffen hat und glaubt, diese sei nur eine Theorie der Zufälle, während sie in Wirklichkeit von Chancen im eigentlichen Sinn und damit genau vom Gegenteil handelt.
Die falsche Vereinnahmung des Unwahrscheinlichkeitsarguments durch die Kreationisten hat die immer gleiche allgemeine Form; dabei ist es unerheblich, ob die Kreationisten sich entschließen, dieses Argument in das politisch opportune Gewand des »Intelligent Design« (ID) zu kleiden. [19] Stets wird ein Phänomen, das man beobachtet – häufig ein Lebewesen oder eines seiner komplizierten Organe, manchmal aber auch alles mögliche andere vom Molekül bis zum ganzen Universum –, zu Recht als statistisch unwahrscheinlich herausgestellt. Manchmal bedient man sich der Sprache der Informatik: Dann soll der Darwinist erklären, woher die vielen Informationen in den Lebewesen stammen, wobei der Informationsgehalt im fachsprachlichen Sinn als Maß für die Unwahrscheinlichkeit oder den »Überraschungswert« herangezogen wird. Oder man bedient sich des abgedroschenen Mottos der Wirtschaftwissenschaftler: Nichts ist umsonst, von nichts kommt nichts – und wirft dem Darwinismus vor, er wolle etwas umsonst bekommen. Wie ich jedoch in diesem Kapitel nachweisen werde, ist die Darwinsche natürliche Selektion die einzige bekannte Antwort auf die ansonsten unlösbare Frage, woher die Informationen stammen. Und dann wird sich herausstellen, dass es ausgerechnet die Gotteshypothese ist, die versucht, etwas umsonst zu bekommen. Das Gebilde, das man durch die Berufung auf einen Gestalter erklären will, mag noch so unwahrscheinlich sein, der Gestalter selbst ist es mindestens ebenso. Gott ist letztlich die höchste Form der Boeing 747.
Das Unwahrscheinlichkeitsargument besagt, dass komplizierte Dinge nicht durch Zufall entstanden sein können. Und weil für viele Menschen »Entstehung durch Zufall« gleichbedeutend mit »Entstehung ohne gezielte Gestaltung« ist, sehen sie, wie nicht anders zu erwarten, in der Unwahrscheinlichkeit einen Beleg für Gestaltung. Die Darwinsche natürliche Selektion zeigt jedoch, dass diese Annahme zumindest im Kontext biologischer Unwahrscheinlichkeit falsch ist. Selbst wenn der Darwinismus für die Welt des Unbelebten – etwa die Kosmologie – nicht unmittelbar gilt, erweitert er unser Bewusstsein auch in jenen Bereichen, die außerhalb seiner eigentlichen biologischen Domäne liegen.
Denn ein tieferes Verständnis des Darwinismus lehrt uns, misstrauisch gegenüber der leichtfertigen Annahme zu sein, Gestaltung sei die einzige Alternative zum Zufall. Stattdessen lernen wir, nach langsam ansteigenden Linien zunehmender Komplexität zu suchen. Schon vor Darwin hatten Philosophen wie Hume begriffen, dass die Unwahrscheinlichkeit des Lebendigen kein Beweis für eine gezielte Gestaltung ist, aber sie konnten sich die Alternative nicht ausmalen. Seit Darwin jedoch sollten wir alle schon der Idee einer bewussten göttlichen Gestaltung zutiefst misstrauen. Die Illusion der Gestaltung ist eine Falle, in die schon viele getappt sind, doch Darwin sollte uns eigentlich durch Erweiterung unseres Bewusstseins dagegen immunisiert haben. Ich wünschte nur, es wäre wirklich so – bei uns allen!
Natürliche Selektion als Bewusstseinserweiterer
In einem Science-Fiction-Raumschiff haben die Astronauten Heimweh: »Wenn man bedenkt, dass zu Hause auf der Erde jetzt Frühling ist!« Vielleicht erkennen Sie nicht sofort, was an diesem Satz nicht stimmt – dafür ist der unbewusste Chauvinismus der Bewohner der Nordhalbkugel unseres Planeten, und vielleicht auch der einiger anderer, einfach zu tief verwurzelt. »Unbewusst« ist genau das richtige Wort. Und genau hier liegt der Ansatzpunkt für eine Bewusstseinserweiterung. Dass man in Australien und Neuseeland Weltkarten kaufen kann, auf denen der Südpol
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