Der Gotteswahn
in der Mitte zwischen Plattwürmern und Menschen steht. Während das Auge der Plattwürmer zwar Hell und Dunkel wahrnimmt, aber kein Bild erzeugt, produziert das »Lochkameraauge« des Nautilus eine echte Abbildung, die aber im Vergleich zu der in unserem eigenen Auge unscharf und düster ist. Dieser Verbesserung einen Zahlenwert zuzuordnen wäre eine Pseudogenauigkeit, aber kein vernunftbegabter Mensch kann abstreiten, dass die Augen der Wirbellosen und vieler anderer im Tierreich besser sind als gar kein Auge, und alle liegen auf der ununterbrochenen, flachen Steigung, die zum Gipfel des Unwahrscheinlichen führt. Unsere eigenen Augen liegen fast ganz oben – nicht am allerhöchsten Punkt, aber doch an einem recht hohen. In Gipfel des Unwahrscheinlichen habe ich den Augen und Flügeln ein ganzes Kapitel gewidmet und nachgewiesen, wie leicht sich beide in der Evolution durch langsame (oder vielleicht auch gar nicht so langsame), stufenweise Verbesserung entwickeln konnten; deshalb werde ich das Thema hier nicht weiter ausführen.
Wir haben also gesehen, dass Augen und Flügel keine Komplexität besitzen, die nicht reduzierbar wäre; doch interessanter als diese Einzelbeispiele ist die allgemeine Lehre, die wir daraus ziehen können. Die Tatsache, dass so viele Menschen in diesen ganz offenkundigen Fällen völlig Unrecht haben, sollte uns auch bei anderen, weniger naheliegenden Beispielen eine Warnung sein – insbesondere wenn Kreationisten, die sich heute hinter dem politisch opportunen Begriff einer »Intelligent-Design-Theorie« verschanzen, Behauptungen über Zellen und Biochemie herumposaunen.
Die beschriebenen Beispiele mahnen zur Vorsicht, und die Lehre, die wir daraus ableiten können, lautet: Erkläre nicht einfach, irgendetwas sei von nicht reduzierbarer Komplexität; es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass du die Details nicht gründlich genug untersucht oder nicht eingehend genug darüber nachgedacht hast. Andererseits dürfen wir auch auf der Seite der Wissenschaft nicht zu dogmatisch-selbstsicher sein. Vielleicht gibt es in der Natur tatsächlich etwas, das durch seine echte , nicht reduzierbare Komplexität die sanfte Steigung zum Gipfel des Unwahrscheinlichen ausschließt. In einem Punkt haben die Kreationisten recht: Könnte man eine solche echte, nicht reduzierbare Komplexität irgendwo stichhaltig nachweisen, wäre Darwins Theorie am Ende. Das sagte schon Darwin selbst:
Ließe sich irgendein zusammengesetztes Organ nachweisen, dessen Vollendung nicht möglicherweise durch zahlreiche kleine aufeinanderfolgende Modifikationen hätte erfolgen können, so müsste meine Theorie unbedingt zusammenbrechen. Ich vermag jedoch keinen solchen Fall aufzufinden.
Darwin konnte keinen derartigen Fall finden, und seit seiner Zeit ist es trotz angestrengter und sogar verzweifelter Versuche auch sonst niemandem gelungen. Für diesen heiligen Gral des Kreationismus wurden viele Kandidaten vorgeschlagen, aber keiner hielt einer gründlichen Analyse stand.
Ohnehin muss man fragen: Selbst wenn man irgendwann echte, nicht reduzierbare Komplexität finden und damit Darwins Theorie ruinieren würde, wer sagt denn, dass dann nicht auch die Theorie des Intelligent Design am Ende wäre? In Wirklichkeit ist die Theorie des Intelligent Design bereits am Ende, denn wie ich immer und immer wieder betonen werde, können wir eines mit Sicherheit sagen: So wenig wir auch über Gott wissen, er muss in jedem Fall sehr, sehr komplex sein, und diese Komplexität ist vermutlich nicht reduzierbar!
Die Anbetung der Lücken
Die Suche nach Einzelbeispielen für nicht reduzierbare Komplexität ist grundsätzlich eine unwissenschaftliche Vorgehensweise, ein Sonderfall der Argumentation aufgrund derzeitigen Unwissens. Sie spricht die gleiche fehlerhafte Logik an wie die Strategie des »Gottes der Lücken«, die der Theologe Dietrich Bonhoeffer verurteilte. Kreationisten suchen eifrig nach einer Lücke im heutigen Kenntnisstand. Finden sie eine solche scheinbare Lücke, unterstellen sie, man müsse die Leere automatisch mit Gott ausfüllen. Nachdenkliche Theologen wie Bonhoeffer sind beunruhigt über den Gedanken, dass die Lücken mit dem Fortschritt der Wissenschaft immer kleiner werden; es droht die Gefahr, dass ein solcher Gott am Ende nichts mehr zu tun hat und sich nirgendwo verstecken kann. Die Wissenschaftler indes beunruhigt etwas anderes. Es ist ein wesentlicher Teil der wissenschaftlichen Arbeitsweise, dass man
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