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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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sanften Böschungen auf der Rückseite des Unwahrscheinlichkeitsberges. Die Kreationisten dagegen sind blind für alles mit Ausnahme der steil aufragenden Felswand auf der Vorderseite.
    Darwin widmete ein ganzes Kapitel seiner Entstehung der Arten den »Verschiedenen Einwänden gegen die Theorie der natürlichen Zuchtwahl«, und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass er in diesem kurzen Kapitel alle seither geäußerten Einwände schon vorwegnahm und abhandelte. Die größte Schwierigkeit bieten Darwins »Organe von äußerster Vollkommenheit und Zusammengesetztheit«, die manchmal fälschlich auch als »nicht reduzierbar komplex« bezeichnet werden. Als besonders schwieriges Thema griff Darwin das Auge heraus: »Die Annahme, dass sogar das Auge mit allen seinen unnachahmlichen Vorrichtungen, um den Focus den mannigfaltigsten Entfernungen anzupassen, verschiedene Lichtmengen zuzulassen und die sphärische und chromatische Abweichung zu verbessern, nur durch natürliche Zuchtwahl zu dem geworden sei, was es ist, erscheint, ich will es offen gestehen, im höchsten möglichen Grade absurd zu sein.«
    Diesen einen Satz zitieren die Kreationisten vergnügt immer und immer wieder. Dass sie jedoch niemals sagen, wie Darwins Text weitergeht, versteht sich fast von selbst. Sein übertrieben freimütiges Geständnis erweist sich dabei als rhetorisches Mittel. Er ließ seine Gegner nahe an sich heran, damit der nachfolgende Schlag sie umso härter treffen konnte. Und dieser Schlag bestand natürlich darin, dass Darwin mühelos erklären konnte, wie sich das Auge in der Evolution ganz allmählich entwickelt hat. Er verwendete dabei keine Formulierungen wie »nicht reduzierbare Komplexität« oder »sanfte Böschung zum Gipfel des Unwahrscheinlichkeitsgebirges«, aber das Prinzip, um das es in solchen Formulierungen geht, hatte er natürlich verstanden.
    Das Argument der »nicht reduzierbaren Komplexität« wird häufig in Formulierungen wie »Wozu ist ein halbes Auge gut?« oder »Was nützt ein halber Flügel?« gekleidet. Man bezeichnet ein Gebilde als nicht reduzierbar komplex, wenn es seine Funktion völlig verliert, sobald man ein Einzelteil entfernt. Das schien für Augen und Flügel auf der Hand zu liegen. Doch sobald man etwas genauer darüber nachdenkt, erkennt man den Irrtum sofort. Eine Patientin, der man wegen grauem Star die Augenlinse herausoperiert hat, sieht ohne Brille kein scharfes Bild mehr, aber ihr Sehvermögen reicht trotzdem noch dafür aus, dass sie nicht gegen einen Baum rennt oder eine Klippe hinunterstürzt.
    Ein halber Flügel ist natürlich nicht so gut wie ein ganzer Flügel, aber immer noch besser als überhaupt kein Flügel. Ein halber Flügel kann einem Tier beispielsweise das Leben retten, weil er den Sturz von einem hohen Baum abbremst. Und 51 Prozent eines Flügels sind vielleicht die Rettung, wenn der Baum ein wenig höher ist. Ganz gleich, wie viel Prozent eines Flügels man besitzt: Immer gibt es eine Fallhöhe, bei der das Flügelfragment noch lebensrettend wirkt, ein etwas kleineres Fragment aber nicht mehr. Das Gedankenexperiment mit dem Sturz von unterschiedlich hohen Bäumen ist nur eine von vielen Möglichkeiten, das theoretische Prinzip zu verdeutlichen: Es muss eine ununterbrochene Steigerung der Nützlichkeit geben, die von einem Prozent eines Flügels bis zu 100 Prozent reicht. In den Wäldern der Erde gibt es eine Fülle von Tieren, die durch die Luft segeln oder sich fallen lassen; an ihnen kann man die vielen Schritte an dieser speziellen Böschung des Unwahrscheinlichkeitsgebirges auch in der Praxis erkennen.
    Analog zu der Situation mit den unterschiedlich hohen Bäumen kann man sich auch ohne weiteres Situationen vorstellen, in denen ein halbes Auge einem Tier das Leben rettet, während es mit 49 Prozent eines Auges gestorben wäre. Sanfte Abstufungen ergeben sich hier durch unterschiedliche Lichtverhältnisse oder unterschiedliche Abstände, aus denen ein Beutetier – oder ein Verfolger – erkannt wird. Und wie bei den Flügeln oder Flughäuten, so kann man sich plausible Zwischenstufen auch hier nicht nur ausmalen, sondern es gibt sie im Tierreich in Hülle und Fülle. Ein Plattwurm besitzt ein Auge, das nach allen vernünftigen Maßstäben weniger als die Hälfte eines menschlichen Auges ist. Ein Nautilus hat (wie vielleicht auch seine ausgestorbenen Vettern, die Ammoniten, die im Paläozoikum und Mesozoikum die Meere beherrschten) ein Auge, das mit seiner Qualität

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