Der Gotteswahn
Evolutionsvergangenheit dorthin gestellt worden.« Auch dies war ein rhetorisches Vorspiel, das die Neugier des Lesers auf die nachfolgende, vollständige Erklärung wecken sollte. Im Nachhinein kam mir die traurige Erkenntnis, dass ich es hätte vorhersehen müssen: Meine geduldige Erklärung wurde weggelassen und die Einleitung in Zitaten unbekümmert aus dem Zusammenhang gerissen. Die Kreationisten schwärmen für »Lücken« bei den Fossilfunden, genau wie sie Lücken ganz allgemein lieben.
Viele entwicklungsgeschichtliche Übergänge sind sehr elegant durch mehr oder weniger kontinuierliche Reihen von Fossilien mit stufenweisen Veränderungen dokumentiert. In manchen Fällen ist das nicht der Fall, und das sind dann die berühmten »Lücken«. Eine geistreiche Bemerkung dazu machte Michael Shermer: Wenn man ein neues Fossil findet, das genau in die Mitte einer »Lücke« passt und sie auf diese Weise zweiteilt, behaupten die Kreationisten sogleich, es gebe nun doppelt so viele Lücken! Ohnehin setzt dann auch wieder der unbegründete Automatismus ein. Ist ein postulierter entwicklungsgeschichtlicher Übergang nicht durch Fossilien belegt, so wird automatisch unterstellt, es habe einen solchen Übergang nicht gegeben und deshalb müsse Gott eingegriffen haben.
Vollständige Belege für jeden Schritt einer Entwicklung zu fordern ist in der Evolution wie in jeder anderen Wissenschaft vollkommen unlogisch. Ebenso könnte man verlangen, jemand solle nur dann wegen Mordes verurteilt werden, wenn jeder seiner Schritte zu dem Verbrechen in einer Filmaufnahme festgehalten wurde, ohne dass auch nur ein einziges Bild fehlt. Nur ein winziger Bruchteil aller toten Organismen wird zu Fossilien, und wir haben Glück, dass wir bereits so viele fossile Zwischenformen besitzen. Es wäre ohne weiteres vorstellbar, dass es überhaupt keine Fossilien gibt, und auch dann wären die Belege für die Evolution, beispielsweise aus Molekulargenetik oder geografischer Verteilung, immer noch überwältigend stark. Andererseits sagt die Evolutionstheorie eindeutig eines voraus: Nur ein einziges Fossil, das man in der falschen geologischen Schichtung findet, würde die ganze Theorie aus den Angeln heben. Von einem eifrigen Popper-Anhänger gefragt, wie man die Evolution überhaupt widerlegen könne, gab J.B.S. Haldane die berühmte mürrische Antwort: »Durch Kaninchenfossilien im Präkambrium.« In Wirklichkeit wurden solche echt anachronistischen Fossilien nie gefunden; kreationistische Legenden über Menschenschädel in Kohleflözen und menschliche Fußabdrücke zwischen Dinosaurierspuren wurden stets widerlegt.
Lücken werden in den Köpfen der Kreationisten automatisch durch Gott gefüllt. Das Gleiche gilt für alle scheinbaren Steilhänge des Unwahrscheinlichkeitsgebirges, wenn der sanfte Abhang nicht sofort zu erkennen ist oder aus anderen Gründen übersehen wird. Wenn in irgendwelchen Bereichen die Daten oder Kenntnisse fehlen, wird automatisch angenommen, sie seien die Domäne Gottes. Der eilige Rückgriff auf die lautstarke Behauptung, irgendwo gebe es eine »nicht reduzierbare Komplexität«, spiegelt ein Versagen der Fantasie wider. Irgendein biologisches Organ – wenn es nicht das Auge ist, dann vielleicht der Flagellenmotor der Bakterien oder ein biochemischer Reaktionsweg – wird mit einer einfachen Behauptung und ohne weitere Begründung für nicht reduzierbar komplex erklärt, ohne dass man auch nur versucht hätte, die nicht reduzierbare Komplexität nachzuweisen. Trotz aller warnenden Berichte über Augen, Flügel und vieles andere wird bei jedem Kandidaten für diese zweifelhafte Ehre aufs Neue unterstellt, er sei ganz offensichtlich und selbstverständlich von nicht reduzierbarer Komplexität – sein Status wird durch Dekret festgelegt. Denken wir darüber doch einmal genauer nach. Da die nicht reduzierbare Komplexität als Argument für gezielte Gestaltung herangezogen wird, sollte man sie ebenso wenig durch Dekret festlegen wie die Gestaltung selbst. Genauso könnte man einfach behaupten, der Wieselfrosch (oder der Bombardierkäfer usw.) sei ein Beleg für Gestaltung, ohne dass man dies weiter begründen oder rechtfertigen müsste. So kann man keine Wissenschaft betreiben.
Letztlich ist die Logik dieser Argumentation nicht überzeugender als die folgende: »Ich [man setze den eigenen Namen ein] bin persönlich nicht in der Lage, einen Weg zu erkennen, auf dem [man setze ein biologisches Phänomen ein] Schritt
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