Der Gotteswahn
beispielsweise wenn die Gruppenselektion als Erklärung für individuelle Selbstaufopferung genannt wird –, ist die Selektion auf niedrigerer Ebene wahrscheinlich stärker. Stellen wir uns nur einmal vor, in der Armee unseres hypothetischen Stammes gäbe es unter den vielen ehrgeizigen Märtyrern, die für den Stamm sterben und sich eine himmlische Belohnung sichern wollen, einen einzigen egoistischen Soldaten. Die Wahrscheinlichkeit, dass er auf der Seite der Sieger ist, obwohl er sich im Kampf zurückhält und so seine eigene Haut rettet, ist nur unwesentlich geringer. Dann nützt ihm das Märtyrertum seiner Kameraden mehr, als es der ganzen Gruppe im Durchschnitt nützt, denn alle anderen sind am Ende tot. Er wird sich besser fortpflanzen als die anderen, und die Gene für die Ablehnung des Märtyrertums gelangen in größerer Zahl in die nächste Generation. Deshalb nimmt die Neigung zum Märtyrertod in den späteren Generationen immer weiter ab.
Das Beispiel ist stark vereinfacht, aber es macht ein hartnäckiges Problem der Gruppenselektion deutlich. Theorien der Gruppenselektion durch individuelle Selbstaufopferung sind immer anfällig für die Zersetzung von innen. Fortpflanzung und Tod der Individuen spielen sich schneller und häufiger ab als das Aussterben oder die Aufspaltung von Gruppen. In mathematischen Modellen kann man besondere Bedingungen konstruieren, unter denen die Gruppenselektion eine wichtige Evolutionskraft ist. Im Hinblick auf die Natur sind diese besonderen Bedingungen meistens unrealistisch, aber man kann die Ansicht vertreten, dass die Religionen in den Stammesgruppen der Menschen genau diese ansonsten unrealistischen Bedingungen begünstigen. Das ist eine interessante Denkrichtung, die ich hier aber nicht weiter verfolgen möchte; allerdings muss ich einräumen, dass Darwin selbst, ansonsten ein standhafter Verfechter der Selektion auf der Ebene des einzelnen Lebewesens, der Gruppenselektion in einer Beschreibung von Menschenstämmen sehr nahe kam:
Kamen zwei Stämme des Urmenschen, welche in demselben Lande wohnten, miteinander in Konkurrenz, so wird, wenn der eine Stamm bei völliger Gleichheit aller übrigen Umstände eine größere Zahl mutiger, sympathischer und treuer Glieder umfasste, welche stets bereit waren, einander vor Gefahr zu warnen, einander zu helfen und zu verteidigen, dieser Stamm ohne Zweifel am besten gediehen sein und den anderen besiegt haben. […] Selbstsüchtige und streitsüchtige Leute werden nicht zusammenhalten, und ohne Zusammenhalten kann nichts ausgerichtet werden. Ein Stamm, welcher die oben genannte Eigenschaft in hohem Grade besitzt, wird sich verbreiten und anderen Stämmen gegenüber siegreich sein; aber im Laufe der Zeit wird, nach dem Zeugnis der ganzen vergangenen Geschichte, auch er an seinem Teil von irgendeinem andern und noch höher begabten Stamme überflügelt werden. 85
Um die Spezialisten unter den Biologen zufrieden zu stellen, die diesen Abschnitt vielleicht lesen, sollte ich noch etwas hinzufügen: Streng genommen dachte Darwin hier nicht an Gruppenselektion im engeren Sinn, wonach erfolgreiche Gruppen irgendwann Tochtergruppen hervorbringen, deren Häufigkeit man in der Metapopulation der Gruppen quantitativ erfassen könnte. Darwin stellte sich vielmehr Stämme mit altruistischen, kooperativen Mitgliedern vor, die sich ausbreiteten und als Individuen zahlreicher wurden. Sein Modell ähnelt eher der Ausbreitung der Grauhörnchen in Großbritannien auf Kosten der Eichhörnchen: Es handelt sich nicht um echte Gruppenselektion, sondern um ökologische Verdrängung.
Religion als Nebenprodukt von etwas anderem
Wie dem auch sei, ich möchte die Gruppenselektion jetzt beiseite lassen und mein eigene Ansicht über den darwinistischen Überlebenswert der Religion darlegen. Ich gehöre zu der wachsenden Zahl von Biologen, die in der Religion ein Nebenprodukt von etwas anderem sehen. Allgemeiner gesagt, bin ich überzeugt, dass wir »in Nebenprodukten denken müssen«, wenn wir Vermutungen über darwinistische Überlebensvorteile anstellen. Wenn wir nach dem Überlebenswert vor irgendetwas fragen, haben wir unser Anliegen vielleicht schon falsch formuliert. Wir müssen die Frage in eine nützliche neue Form bringen. Vielleicht hat das Merkmal, für das wir uns interessieren (in diesem Fall die Religion), selbst keinen unmittelbaren Überlebenswert, sondern es ist ein Nebenprodukt von etwas anderem, das einen solchen Wert besitzt. Nach
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