Der Gotteswahn
den normalen menschlichen Schwächen und unterdurchschnittlicher Intelligenz ausgestattet ist, der Gesundheit zuträglich sind. Vielleicht ist es unfair, hier die Katholiken herauszugreifen. Die amerikanische Komikerin Cathy Ladman stellte fest: »Alle Religionen sind gleich: Religion, das sind vor allem Schuldgefühle mit unterschiedlichen Feiertagen.« Ohnehin ist die Placebotheorie nach meiner Überzeugung dem gewaltigen, weltweiten Phänomen der Religion nicht angemessen. Dass es Religionen gibt, liegt in meinen Augen nicht daran, dass sie bei unseren Vorfahren den Stress verminderten. Das reicht als Gesamterklärungsmuster nicht aus, eine ergänzende Rolle könnte es allerdings gespielt haben. Religion ist ein umfassendes Phänomen, darum brauchen wir zu ihrer Erklärung auch eine umfassende Theorie.
Andere Theorien lassen die Notwendigkeit einer darwinistischen Erklärung völlig außer Acht. Damit meine ich Vorschläge wie »Religion befriedigt unsere Neugier auf das Universum und unseren Platz darin« oder »Religion ist ein Trost«. Wie wir in Kapitel 10 genauer erfahren werden, liegt in beiden Aussagen wahrscheinlich eine gewisse psychologische Wahrheit, aber für sich genommen sind es keine darwinistischen Erklärungen. Zur Theorie, Religion sei Trost, bemerkt Steven Pinker in seinem Buch How the Mind Works (Wie das Denken im Kopf entsteht) zutreffend:
Dann [stellt sich] die Frage […], warum sich ein Gehirn dahin entwickeln sollte, in Überzeugungen Trost zu finden, die es eindeutig als falsch erkennen kann. Ein frierender Mensch findet keinen Trost in dem Glauben, dass ihm warm sei; ein Mensch, der sich einem Löwen gegenübersieht, lässt sich nicht von dem Glauben beruhigen, dass es sich um ein Kaninchen handele. 83
Zumindest muss man die Tröstungstheorie in einen darwinistischen Rahmen übertragen, und das ist schwieriger, als man meinen könnte. Psychologische Begründungen in dem Sinn, dass die Menschen eine Überzeugung angenehm oder unangenehm finden, sind vordergründig und keine letztgültigen Erklärungen.
Dieser Unterschied zwischen vordergründigen und letztgültigen Erklärungen ist für Darwinisten sehr wichtig. Die naheliegende Erklärung dafür, dass im Zylinder eines Verbrennungsmotors eine Explosion stattfindet, ist der Zündfunke. Die letztgültige Erklärung hat mit dem Zweck zu tun, den die Explosion erfüllen soll: Sie soll einen Kolben aus dem Zylinder drücken und damit die Kurbelwelle in Drehung versetzen. Die naheliegende Ursache der Religion ist vielleicht die übermäßige Aktivität irgendeines Gehirnareals. Die neurologische Idee eines »Gotteszentrums« im Gehirn werde ich hier nicht weiter verfolgen, denn es geht mir nicht um vordergründige Erklärungen, ohne dass ich diese damit kleinreden wollte. Eine prägnante Erörterung des Themas findet sich zum Beispiel in Michael Shermers Buch How We Believe: The Search for God in an Age of Science (»Wie wir glauben: Die Suche nach Gott im Zeitalter der Wissenschaft«); dort wird auch eine Vermutung von Michael Persinger und anderen erwähnt, wonach visionäre religiöse Erlebnisse mit einer Schläfenlappenepilepsie zusammenhängen.
Im vorliegenden Kapitel dagegen geht es mir um letztgültige darwinistische Erklärungen. Wenn die Neurowissenschaftler im Gehirn tatsächlich ein »Gotteszentrum« finden, werden die darwinistischen Evolutionsforscher immer noch klären wollen, durch welchen Selektionsdruck es begünstigt wurde. Warum konnten diejenigen unter unseren Vorfahren, die eine genetische Disposition zur Entwicklung eines Gotteszentrums hatten, besser überleben und mehr Enkel haben als ihre Konkurrenten, die keine solche Neigung besaßen? Die darwinistische Frage nach den letzten Gründen ist nicht besser, nicht tiefgreifender und nicht wissenschaftlicher als die naheliegende Frage der Neurowissenschaft. Aber es ist die Frage, die ich hier erörtern möchte.
Auch mit politischen Erklärungen wie »Religion ist das Mittel, mit dem die herrschende Klasse die Unterschicht unterdrückt« geben Darwinisten sich nicht zufrieden. Sicher, die schwarzen Sklaven in Amerika wurden mit der Aussicht auf ein besseres Jenseits vertröstet, was ihre Unzufriedenheit milderte und ihren Besitzern nützte. Die Frage, ob Religionen gezielt von zynischen Priestern oder Herrschern konstruiert werden, ist interessant und sollte von Historikern genauer untersucht werden. Aber auch dies ist für sich betrachtet keine darwinistische Frage.
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