Der Gotteswahn
meiner Überzeugung ist es hilfreich, wenn ich den Gedanken an Nebenprodukte an einem Beispiel aus meinem eigenen Fachgebiet verdeutliche: der Verhaltensforschung.
Motten fliegen in eine Kerzenflamme, und wenn man sie dabei beobachtet, sieht es nicht nach einem Unfall aus. Sie machen extra einen Umweg, um sich selbst als Brandopfer darzubringen. Wir könnten von »Selbstvernichtungsverhalten« sprechen und uns angesichts dieses provokativen Namens fragen, wie die natürliche Selektion so etwas begünstigen konnte. Mir geht es darum, dass wir zunächst die Frage anders formulieren müssen, bevor wir überhaupt anfangen können, nach einer intelligenten Antwort zu suchen. Selbstmord ist es nicht. Der scheinbare Selbstmord ist eine unerwünschte Nebenwirkung oder ein Nebenprodukt von etwas anderem. Aber wovon? Nun ja, ich möchte eine Möglichkeit nennen, die meine Aussage gut verdeutlicht.
Künstliches Licht ist auf der Bühne der Nacht eine relativ neue Erscheinung. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren Mond und Sterne nachts die einzigen Lichter. Sie sind unter optischen Gesichtspunkten unendlich weit entfernt, das heißt, ihre Lichtstrahlen fallen parallel ein. Deshalb eignen sie sich zur Orientierung. Insekten nutzen bekanntermaßen Himmelskörper wie Sonne und Mond, um genau in gerader Linie ihre Richtung einzuhalten, und mit dem gleichen Kompass finden sie unter umgekehrten Vorzeichen auch nach der Nahrungssuche wieder nach Hause. Das Nervensystem der Insekten ist darauf ausgelegt, vorübergehend eine Faustregel nach folgendem Schema aufzustellen: »Steuere einen Kurs, bei dem die Lichtstrahlen deine Augen in einem Winkel von 30 Grad treffen.« Da die Insekten Komplexaugen besitzen, in denen gerade Röhren oder Lichtleiter vom Mittelpunkt des Auges ausgehen wie die Stacheln eines Igels, ergibt sich daraus in der Praxis ganz einfach, dass das Licht immer in einem bestimmten Einzelauge (Ommatidium) festgehalten wird.
Aber der Lichtkompass beruht auf der entscheidenden Voraussetzung, dass der Himmelskörper sich in der optischen Unendlichkeit befindet. Ist das nicht der Fall, sind die Strahlen nicht parallel, sondern sie streben auseinander wie die Speichen eines Rades. Ein Nervensystem, das der Faustregel zufolge einen Winkel von 30 Grad (oder jeden anderen spitzen Winkel) zu einer in der Nähe befindlichen Kerze einhält, als wäre sie der unendlich weit entfernte Mond, steuert die Motte auf einer spiralförmigen Bahn in die Flamme. Man kann es sich aufzeichnen; setzt man dabei einen spitzen Winkel wie 30 Grad voraus, ergibt sich eine elegante logarithmische Spirale, die in die Flamme führt.
In diesem speziellen Fall hat die Faustregel für die Motte also tödliche Folgen, aber im Durchschnitt ist sie dennoch nützlich, denn der Anblick einer Kerze ist für Motten im Vergleich zum Anblick des Mondes selten. Die vielen hundert Motten, die sich in aller Stille und sehr effizient am Mond, einem hellen Stern oder auch dem entfernten Lichtkegel einer Großstadt orientieren, bemerken wir nicht. Wie sehen nur die Motte, die in unsere Kerze torkelt, und stellen die falsche Frage: Warum begehen alle diese Motten Selbstmord? Stattdessen sollten wir uns dafür interessieren, warum sie ein Nervensystem haben, das die Richtung angibt, indem es einen festen Winkel zu Lichtstrahlen einhält – eine Methode, die uns nur dann auffällt, wenn sie schiefgeht. Formuliert man die Frage anders, löst sich das Rätsel in Wohlgefallen auf. Es war nie berechtigt, von Selbstmord zu sprechen. Wir haben es mit einem danebengegangenen Nebeneffekt eines normalerweise nützlichen Kompasses zu tun.
Wenden wir nun dieses Prinzip des Nebenprodukts auf das religiöse Verhalten der Menschen an. Wir beobachten, dass eine große Zahl von Menschen – in vielen Regionen sogar 100 Prozent – religiöse Überzeugungen hat, die nachgewiesenen wissenschaftlichen Tatsachen und auch den konkurrierenden Religionen anderer Menschen krass widersprechen. Die Menschen hegen solche Überzeugungen nicht nur mit leidenschaftlichem Selbstbewusstsein, sondern sie verwenden auch Zeit und Ressourcen auf aufwendige Tätigkeiten, die aus diesen Überzeugungen erwachsen. Sie sterben dafür oder töten dafür. Darüber staunen wir genauso wie über das »Selbstmordverhalten« der Motten. Verblüfft fragen wir nach dem Warum. Mir geht es darum zu zeigen, dass wir auch hier die falsche Frage stellen. Das religiöse Verhalten könnte eine Fehlfunktion sein, ein
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