Der Gotteswahn
verschlingenden, Feindseligkeiten provozierenden Rituale, jener tatsachenfeindlichen, kontraproduktiven Fantasien der Religion. Manche gebildeten Menschen haben sich von der Religion losgesagt, aber alle sind in einer religiösen Kultur aufgewachsen, und in der Regel mussten sie sich bewusst für die Loslösung entscheiden. Der alte nordirische Scherz »Ja, aber bist du nun ein protestantischer oder ein katholischer Atheist?« birgt eine bittere Wahrheit. Religiöses Verhalten kann man genauso als allgemeinmenschliche Eigenschaft bezeichnen wie das heterosexuelle Verhalten. Beide Verallgemeinerungen lassen individuelle Ausnahmen zu, aber all diese Ausnahmen bestätigen nur allzu gut die Regel, von der sie sich abheben. Und allgemeine Eigenschaften einer Spezies verlangen nach einer darwinistischen Erklärung. – Der darwinistische Vorteil sexuellen Verhaltens liegt natürlich sofort auf der Hand. Es dient dazu, Babys zu produzieren, und das sogar in Fällen, in denen das Prinzip durch Verhütung oder Homosexualität scheinbar außer Kraft gesetzt ist. Aber wie steht es mit dem religiösen Verhalten? Warum fasten die Menschen, warum machen sie Kniefälle, geißeln sich, verbeugen sich in besessenem Rhythmus vor einer Mauer, gehen auf Kreuzzüge oder engagieren sich für andere aufwendige Tätigkeiten, die ein ganzes Leben in Anspruch nehmen und im Extremfall auch sein Ende herbeiführen können?
Unmittelbare Vorteile der Religion
Gewisse Indizien sprechen dafür, dass religiöser Glaube vor stressbedingten Krankheiten schützt. Die Belege sind nicht besonders stichhaltig, aber es wäre nicht verwunderlich, wenn sie stimmen, und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem auch Wunderheilungen in manchen Fällen funktionieren. Ich wünschte, ich müsste hier nicht ausdrücklich hinzufügen, dass solche nützlichen Effekte durchaus nicht den Wahrheitsgehalt der Behauptungen der jeweiligen Religion belegen. Denn, wie George Bernard Shaw es formulierte, »die Tatsache, dass ein gläubiger Mensch glücklicher ist als ein Skeptiker, trägt zur Sache nicht mehr bei als die Tatsache, dass ein betrunkener Mensch glücklicher ist als ein nüchterner«.
Zu den Dingen, die ein Arzt dem Patienten vermitteln kann, gehören auch Trost und Beruhigung. Dies sollte man nicht leichterhand abtun. Mein Arzt praktiziert keine buchstäblichen Geistheilungen durch Handauflegen, aber schon mehr als einmal war ich sofort von geringfügigen Beschwerden »geheilt«, als eine ruhige Stimme, die aus einem intelligenten, von einem Stethoskop umrahmten Gesicht kam, auf mich einredete. Der Placeboeffekt ist gut dokumentiert und noch nicht einmal besonders rätselhaft. Pillenattrappen ohne jeden pharmazeutischen Wirkstoff verbessern nachweislich die Gesundheit. Das ist der Grund, warum man Doppelblindversuche mit Placebopräparaten als Kontrolle durchführen muss. Es ist der Grund, warum homöopathische Arzneien zu wirken scheinen, obwohl sie so stark verdünnt sind, dass sie eine ebenso geringe Wirkstoffkonzentration enthalten wie die Placebokontrolle – nämlich null Moleküle.
Nebenbei bemerkt: Die immer stärkere Einmischung von Anwälten in den ärztlichen Tätigkeitsbereich hatte auch die bedauerliche Nebenwirkung, dass Ärzte sich heute in der normalen Praxis nicht mehr trauen, Placebos zu verschreiben. Oder sie sind durch bürokratische Vorschriften verpflichtet, das Placebo in schriftlichen Aufzeichnungen, zu denen der Patient Zugang hat, zu benennen – was natürlich die beabsichtigte Wirkung vereitelt. Homöopathen haben relativ häufig Erfolg, weil es ihnen im Gegensatz zu den Schulmedizinern immer noch gestattet ist, Placebos zu verabreichen – wenn auch unter einem anderen Namen. Außerdem haben sie mehr Zeit, sich mit dem Patienten zu unterhalten und einfach freundlich zu sein. In der Anfangszeit ihrer langen Geschichte verbesserte sich der Ruf der Homöopathie sogar unabsichtlich dadurch, dass ihre Arzneien keine Wirkung hatten –
im Gegensatz zu schulmedizinischen Maßnahmen wie dem Aderlass, die echten Schaden anrichteten.
Ist Religion ein Placebo, das den Stress vermindert und dadurch das Leben verlängert? Möglich wäre es; allerdings muss diese Theorie sich gegen jene Skeptiker behaupten, die darauf hinweisen, dass Religion in vielen Fällen den Stress nicht vermindert, sondern ihn überhaupt erst verursacht. So kann man sich beispielsweise kaum vorstellen, dass die nahezu ständigen Schuldgefühle eines Katholiken, der mit
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