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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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unglückseliges Nebenprodukt einer grundlegenden psychologischen Neigung, die unter anderen Umständen nützlich sein kann oder früher einmal nützlich war. Die Neigung, die bei unseren Vorfahren von der natürlichen Selektion begünstigt wurde, war demnach nicht die Religion als solche, sondern sie hatte einen anderen Nutzeffekt, der sich nur nebenher zufällig als religiöses Verhalten manifestiert. Wir werden das religiöse Verhalten erst dann verstehen, wenn wir ihm einen anderen Namen gegeben haben.
    Wenn Religion also das Nebenprodukt von etwas anderem ist, was ist dann dieses andere? Was ist die Entsprechung zur Gewohnheit der Motten, sich anhand der Himmelskörper zu orientieren? Wie sieht das primitiv-vorteilhafte Merkmal aus, das manchmal falsch funktioniert und dann die Religion entstehen lässt? Ich werde einen Vorschlag genauer ausführen, aber ich muss darauf hinweisen, dass es sich nur um ein Beispiel handelt: Diese Art von Dingen meine ich, und ich werde auch auf Parallelvorschläge anderer Autoren zu sprechen kommen. Mir geht es weniger um eine ganz bestimmte Einzelantwort als vielmehr um das allgemeine Prinzip, dass man die Frage richtig stellen und im Bedarfsfall neu formulieren muss.
    Meine eigene Hypothese hat mit Kindern zu tun. Mehr als jede andere Spezies nutzen wir zum Überleben die Erfahrungen früherer Generationen, und diese Erfahrungen müssen wir an die Kinder weitergeben, um für ihren Schutz und ihr Wohlergehen zu sorgen. Theoretisch könnten Kinder durch eigene Erfahrungen lernen, nicht zu nahe an den Rand einer Felsklippe zu gehen, nicht unbesehen rote Beeren zu essen oder nicht in einem Gewässer voller Krokodile zu schwimmen. Aber für ein Kindergehirn bedeutet es, gelinde gesagt, einen Selektionsvorteil, wenn es die Faustregel erlernt: »Glaube alles, was die Erwachsenen dir sagen, ohne weiter nachzufragen. Gehorche deinen Eltern; gehorche den Stammesältesten, insbesondere wenn sie in feierlichem, bedrohlichem Ton zu dir sprechen. Vertraue den Älteren, ohne Fragen zu stellen.« Das ist für ein Kind in der Regel ein sehr nützlicher Grundsatz. Aber wie bei den Motten kann auch hier etwas schiefgehen.
    Ich habe nie eine beängstigende Predigt vergessen, die in der Kapelle meiner Schule gehalten wurde, als ich ein kleiner Junge war. Beängstigend war sie aus heutiger Sicht –
damals nahm mein Kindergehirn sie so hin, wie der Prediger es beabsichtigte. Er erzählte uns eine Geschichte über einen Trupp Soldaten, die neben einer Eisenbahnlinie eine Übung abhielten. Der Vorgesetzte war in einem entscheidenden Augenblick abgelenkt und versäumte es, den Befehl zum Stehenbleiben zu geben. Die Soldaten waren so darauf gedrillt, Befehle ohne Nachfragen zu befolgen, dass sie immer weiter dem näher kommenden Zug entgegenmarschierten. Heute glaube ich die Geschichte natürlich nicht mehr, und ich hoffe, der Prediger glaubte sie auch nicht. Aber als ich neun war, hielt ich sie für wahr, weil ich sie von einer erwachsenen Autoritätsperson gehört hatte. Und ob der Geistliche sie glaubte oder nicht, in jedem Fall wollte er, dass wir Kinder uns die Soldaten zum Vorbild nahmen, die noch den absurdesten Befehl sklavisch und unhinterfragt befolgten, wenn er von einem Vorgesetzten kam. Soweit ich mich erinnere, bewunderten wir sie tatsächlich.
    Als Erwachsener kann ich mir kaum noch vorstellen, dass mein kindliches Ich sich tatsächlich fragte, ob ich den Mut aufbringen würde, meine Pflicht zu tun und mich vom Zug überfahren zu lassen. Aber genau so habe ich meine Gefühle in Erinnerung, was immer das bedeuten mag. Die Predigt hinterließ bei mir offensichtlich einen tiefen Eindruck, denn ich habe sie noch heute im Gedächtnis und kann darüber berichten.
    Der Fairness halber muss ich hinzufügen: Ich glaube, der Prediger wollte uns mit seiner Geschichte keine religiöse Botschaft vermitteln. Sie war wohl weniger religiös und eher militaristisch, ganz im Geist von Tennysons Gedicht »Charge of the Light Brigade« (1854), das er durchaus hätte zitieren können:

    »Forward, the Light Brigade!«
    Was there a man dismayed?
    Not though the soldier knew
    Someone had blundered:
    Their’s not to make reply,
    Their’s not to reason why,
    Their’s but to do and die:
    Into the valley of Death
    Rode the six hundred.
    [»Vorwärts, leichte Brigade!«
    War ein Einziger entsetzt?
    Nein, obwohl die Soldaten,
    Wussten, man hatt’ einen Fehler gemacht.
    Es ist nicht an ihnen, zu widersprechen,
    Es

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