Der Graben: Thriller (German Edition)
Schattenhaftigkeit, durch die sie sich von Ölgemälden unterschieden. Doch immer wenn er ein solches Bild sah, quälte ihn dieselbe Frage. Auf allen Tuschegemälden, die ich je gesehen habe, war nie eine Person abgebildet, nicht einmal im Hintergrund. Warum tauchen auf Tuschegemälden keine Menschen auf?
Als Jack bemerkte, dass die Tasse leer war, füllte er sie mit heißem Wasser aus der Kanne auf. Obwohl ein Thermostat die Raumtemperatur regelte, wurde er das Gefühl nicht los, dass es von Minute zu Minute kälter wurde.
Im mikroskopischen Reich der Elementarteilchen hörten Objekte auf, Objekte zu sein. Wenn man tief in dieses Reich eintauchte, erkannte man, dass die sichtbare Welt nur einen Bruchteil der immer wiederkehrenden Phänomene von Leben und Tod darstellte, und Konzepte von unvergänglicher Existenz wurden rasch zu einem längst verloren geglaubten Traum. Die Reihe der reellen Zahlen schien eindimensional zu sein, doch zwischen den ganzen Zahlen drei und vier existierten beispielsweise unendlich viele irrationale Zahlen, transzendente Zahlen und so weiter, die wie mikroskopisch kleine Organismen herumwuselten. Als Physiker betrachtete Jack die Zahlenreihe nicht als eindimensional. Auch nicht als zwei- oder dreidimensional. Jenseits der Folgen sich willkürlich wiederholender Zahlen spürte er einen bodenlosen Abgrund, der beinahe einen Weg in eine andere Dimension zu beinhalten schien.
Eine Hypothese hatte sich den Weg in seinen Kopf gebahnt, doch es war ein Gedanke, den er lieber nicht laut aussprach. Wenn wir die Zahlenfolge unter quantentheoretischen Aspekten betrachten, könnten Schwankungen im Wert der Zahl Pi möglich sein.
Wie groß mochten die Chancen gewesen sein, dass durch den Urknall und die Geburt des Universums eine Welt wie die unsere entstand? Jacks Freund Lee Smolin schätzte sie auf eins zu 10^299, während der arithmetikbegeisterte Roger Penrose auf die Zahl eins zu 10^(10^123) gekommen war. Numerisch unterschieden sich die Werte erheblich, doch was sich daraus ergab, war das Gleiche. Die Chancen, dass sämtliche zur Erschaffung unseres Universums notwendigen Zufälle gleichzeitig auftraten, waren gleich null.
Das Universum bestand aus lediglich zwei Typen von Konstrukten: astronomischen Gebilden und Lebensformen. Berge und Flüsse waren Teil astronomischer Gebilde, während Werkzeuge von Menschen und anderen Lebensformen erschaffen worden waren. Konstrukte von Leben und astronomischen Gebilden wurden von unendlich vielen physikalischen Konstanten gestützt. Diese konnte man mit justierbaren Skalen vergleichen, deren fein abgestimmte Kalibrierung dazu diente, die Welt, wie wir sie kennen, zu erhalten. Mehr noch, die Mehrheit der physikalischen Konstanten standen durch einfache Gleichungen mit Pi in Zusammenhang.
Jack fühlte sich, als würde in seinem Magen ein Eisklumpen schmelzen, der kalte Rinnsale durch seinen ganzen Körper laufen ließ. Immer wieder befiel ihn ein Zittern, das schließlich gar nicht mehr aufhörte und ihn heftig mit den Zähnen klappern ließ.
Es war lediglich eine Hypothese. Doch wenn er nur daran dachte, was sie bedeuten würde, war er so verstört, dass er nicht aufhören konnte zu zittern.
Es hatte eine Veränderung im Wert von Pi gegeben. Und diese beinhaltete eine Reihe der ketzerischen Zahl, welche die Menschheit seit Urzeiten in Angst und Schrecken versetzt hatte: der Null.
Das ist nur eine neue Brücke, über die die Menschheit nun gehen muss , dachte Jack. Vor seinem geistigen Auge fiel die Brücke mit den halbrunden Bögen auf dem Tuschegemälde sang- und klanglos in sich zusammen.
TEIL I VERMISST
1
5. NOVEMBER 2012
Saeko Kuriyama fuhr aus dem Schlaf auf, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Es war beinahe, als hätte es ihren ganzen Körper in Besitz genommen. Sein Klopfen drang nach außen, sodass ihre Brüste unter dem heftigen Pulsieren zuckten. Schon wieder war sie heute nach dem Aufwachen eine Zeit lang nicht dazu in der Lage aufzustehen.
Als sie die Augen öffnete, waren die Umrisse um sie herum noch dunkel. Zunächst blieb sie bewegungslos liegen und versuchte durchzuatmen, bevor sie zu dem Wecker auf ihrem Nachttisch griff. Er zeigte 9.11 Uhr an. Sie hatte ganz schön verschlafen. Als die Einzelheiten ihres Zimmers langsam Konturen annahmen, wich die Dunkelheit, die sie zuerst wahrgenommen hatte.
Volle zwanzig Minuten lang blieb Saeko unter ihrer Decke liegen und wartete darauf, dass ihr Puls aufhörte zu rasen, obwohl sie
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