Der Graben: Thriller (German Edition)
einer ominösen Vorahnung absolut still zu halten und sich nach innen zu kehren – sich »in einen Zustand der Quantensuperposition zu begeben«, wie sie es nannte.Bestätigung und Ablehnung verflocht sie sowohl bewusst als auch unbewusst miteinander, bis sie zu einem Schluss kam. Dann wanderte diese Botschaft aus ihrem Kopf in ihren Körper.
Saeko öffnete zwei Knöpfe ihres Pyjamas, schob eine Hand durch den Schlitz und untersuchte sorgfältig beide Brüste – Brüste, die seit einem Jahr kein Mann mehr zärtlich gestreichelt hatte. Sie begann an den Brustwarzen und tastete die Brüste von dort in immer größer werdenden Kreisen ab, bis sie erneut den Knoten an der Unterseite der linken Brust fühlte. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, aber der Knoten war eindeutig da, genau dort, wo sie ihn zuvor gespürt hatte.
Oh nein…
Saeko wusste nicht, wie sich Brustkrebs anfühlte, doch sie konzentrierte sich auf ihr Inneres und versuchte, dort irgendetwas Unbekanntes zu spüren. In ihrem Verdauungssystem, Atmungssystem, ihrem Kreislauf, Harnsystem, Fortpflanzungssystem, Nervensystem… Nacheinander stellt e sie sich die verschiedenen Organgruppen vor und bemühte sich, die Entstehung und Streuung eines bösartigen Tumors wahrzunehmen. Natürlich spürte sie nichts. Sie gab es auf und versuchte stattdessen, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal zur Vorsorgeuntersuchung gegangen war.
Vor zwei Jahren. Vielleicht auch drei. Ihre Werte waren in Ordnung gewesen. Ja, laut der Ergebnisse war sie für eine Frau von Mitte dreißig beinahe zu gesund.
Bei dem Gedanken an Brustkrebs und der Erkenntnis, dass dahinter womöglich der Tod lauerte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Eben noch hatte sie sich nicht eingestanden, dass sie Angst vor dem Tod hatte, doch diese Furchtlosigkeit verpuffte mit dem unheimlichen Gefühl, in ihrem Körper etwas Unnormales entdeckt zu haben.
Ihre Libido war nie besonders ausgeprägt gewesen, doch als sie nun über ihre Brüste strich, stellte sie sich vor, ihre Hände wären die eines gesichtslosen Mannes. In einem Augenblick schien die Möglichkeit von Tod und Sex in einem einzigen Punkt in ihren Brüsten zu verschmelzen.
Wahrscheinlich ist es eine Brustentzündung , sagte sie sich. Während sie so die Angst vor dem Krebs verdrängte, setzte sie sich in ihrem Bett auf. Wenn sie herumlag, hatten i hre Gedanken zu viel Raum zu wandern. Es war besser, rasch aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Sie musste etwas tun, wenn sie ihre Qualen vergessen wollte.
Manche Leute arbeiteten, um Geld zu verdienen. Saeko arbeitete, um zu leben. Zurzeit war sie an der Produktion einer Fernsehsendung beteiligt. Sie hatte überlegt, ob sie mitmachen sollte oder nicht, doch ehe sie sich’s versah, war sie als festes Teammitglied in das Projekt eingebunden.
Immer noch auf dem Bett sitzend, griff Saeko zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Als der Ton zu hören war, verflüchtigte sich das Wort »Brustkrebs« aus ihrem Kopf, obwohl ihre linke Hand unbewusst weiter über ihre Brust strich.
Über den Vorfall war in der Sondersendung eines Boulevardmagazins berichtet worden. Genau wie heute hatte sie im Bett herumgelegen und mit der Fernbedienung den Fernseher eingeschaltet. Auf dem Schirm war das Bild eines stattlichen Landhauses vor einer grünen Hügellandschaft aufgetaucht. Auch damals war es kurz nach 9 Uhr gewesen.
Saeko erinnerte sich erstaunlich genau an die Sendung. Das Haus war im traditionellen japanischen Stil erbaut, von der Art, wie man sie manchmal in Bergdörfern sah. Die Reporterin ging langsam die sanft ansteigende, gepflasterte Straße vor dem Haus hinauf und berichtete dabei den Zuschauern, was geschehen war.
»Vor zwei Wochen ist eine vierköpfige Familie aus diesem Haus in einem Vorort von Takato verschwunden.«
Die Geschichte fesselte Saeko sofort. Die Worte drangen tief in ihr Bewusstsein ein und wühlten unsanft Erinnerungen an die Vergangenheit auf: das lebhafte Zirpen der Zikaden, die steile Steintreppe, die zu einem Schrein hinaufführte, die dichten Baumkronen der Riesenlebensbäume, die hoch oben ein regelrechtes Dach bildeten und nur wenige Strahlen der Sommersonne durchließen…
Die Reporterin hatte Saekos Erinnerungen unterbrochen. Sie hielt ein Mikrofon in der linken Hand, deutete mit der rechten auf das Haus und fuhr mit maskenhaft ernster Miene fort: »Die gesamte vierköpfige Familie Fujimura ist aus ihrem Haus verschwunden. In der Küche
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