Der Graben: Thriller (German Edition)
Saeko einer der Drehbuchschreiber die Möglichkeit erwähnt hatte, das Verschwinden der Fujimuras könne etwas mit Ufos zu tun haben – damals hatte Kagayama sehr interessiert gewirkt.
»Seit der Kamakura-Zeit vor ein paar Jahrhunderten gab es eine alte Straße zwischen Shimoda und Atami.« Saeko sprach gelassen und voller Anmut, als schwebte ihre Stimme von hoch oben herab. Sie hatte das Gespräch unterbrochen, sah jedoch ganz ernst aus. Überrascht wandten Hashiba und Kagayama sich zu ihr. »Eine alte Straße?«, fragte Hashiba.
»Heute ist sie eher ein überwucherter Fußweg, aber früher war sie eine der Hauptstrecken der Region. Damals gab es noch keine Küstenstraßen; wo heute die 135 verläuft, war gar nichts. Ich glaube, oberhalb des Gartens gibt es einen Schrein, den Soga-Schrein. Von dort führt ein gewundener Pfad zum Naturreservat von Atami.«
»Soga-Schrein? Von den Soga-Brüdern?«
Saeko nickte. »Genau, von den Soga-Brüdern, deren Rache-Geschichte man aus den Stücken des Kabuki-Theaters kennt. Sie haben ihren Vater nicht weit von hier gerächt.«
Saeko schien damit nicht sagen zu wollen, dass das Verschwinden der Leute etwas mit der Vendetta zu tun hatte. Da keiner eine plausible Erklärung für das rätselhafte Verschwinden hatte, würzte sie das Gespräch lediglich mit ein wenig lokaler Geschichte.
Dennoch musste Hashiba sich nach ihren Worten unwillkürlich vorstellen, wie einundneunzig Personen im Gänsemarsch über einen alten Fußweg getrieben wurden, der einst häufig benutzt worden war. Sie bewegten sich lautlos voran, abgesehen von einem leisen Rascheln im Unterholz oder dem gelegentlichen Knacken eines Zweiges unter ihren Füßen. Wie Lemminge, die sich blindlings ins Meer stürzten, oder wie Ameisen, die instinktiv auf Futtersuche herumwuselten, hatte keiner mehr einen freien Willen. Trotzdem hatte ihr Marsch etwas Feierliches, weil irgendeine himmlische Macht sie lenkte.
»Wir können uns ja später mal dort oben umschauen«, sagte Saeko. Ihr Vorschlag klang abwegig, doch am Ende würden sie genau tun, was sie sagte. Sobald Kameramänner, Tontechniker und Ausrüstung eintrafen, würden sie auf die Ankunft Shigeko Toriis warten und zu filmen anfangen. Genau in diesem Moment klingelte Hashibas Handy, das auf dem Tisch lag. Wahrscheinlich Nakamura , dachte Hashiba und schaute auf das Display, doch der Name, den er dort las, haute ihn völlig um.
»Äh, entschuldigt mich kurz«, sagte er, schnappte sich das Telefon und stand auf. Noch in der abrupten Bewegung übe rlegte er, ob sein Verhalten Saeko wohl unnatürlich vorkam. Es war ganz offensichtlich, dass der Anruf privat war; wenn er beruflich wäre, bräuchte er nicht aufzustehen. Hashiba warf einen Blick zu Saeko hinüber und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass sie keinen Argwohn zu hegen schien.
Vor den Toiletten neben der Kasse blieb Hashiba stehen und nahm den Anruf entgegen.
»Wo bist du, Liebling?«, klang die Stimme seiner Frau aus dem Hörer.
»Tut mir leid.« Hashiba begann mit einer Entschuldigung. Plötzlich verspürte er heftige Gewissensbisse, die ihn aus seinem Arbeitseifer rissen. Ihm wurde klar, dass er am Vorabend nicht zu Hause angerufen hatte, als er in Saekos Wohnung gewesen war, und jetzt machte seine Frau ihm milde Vorwürfe, weil er vergessen hatte, sich zu melden.
»Ich weiß, dass du viel zu tun hast, aber hättest du nicht wenigstens kurz anrufen können?«
Hashiba kam besser damit zurecht, wenn seine Frau ihn anschrie. Wenn sie dagegen wirklich sauer war, schien ihre Stimme sich klebrig in seinen Gehirnwindungen festzusetzen. Er wechselte das Telefon in die andere Hand und schluckte heftig.
In letzter Zeit war es öfters vorgekommen, dass er wegen der Arbeit über Nacht weggeblieben war. Am Vorabend war das anders gewesen; er hatte nicht angerufen, weil er Saeko nicht misstrauisch machen wollte. Wenn er jetzt daran zurückdachte, hatte er das Gefühl, nicht er selbst gewesen zu sein. Warum hatte er bezüglich seines Familienstands gelogen? Der Grund war nicht gewesen, dass er Saeko begehrt hatte. Als sie gefragt hatte, war dieser Moment schon vorbei, die Lust schon abgeflaut gewesen.
Der Teufel musste ihn geritten haben. Anders konnte man es nicht nennen. Er erinnerte sich an eine seiner Sendungen über einen Politiker, der auf die Frage nach seiner akademischen Laufbahn gelogen hatte. Jetzt konnte Hashiba verstehen, wie der Mann sich gefühlt haben musste. Gezwungen, mit Ja oder Nein zu
Weitere Kostenlose Bücher